Relotius: Will man das wissen?

Der Schweizer Zeitschrift «Reportagen» ist zweifellos ein Scoop gelungen. Der erste Interview mit Claas Relotius. Echt jetzt.

Für den «Spiegel» gibt es inzwischen eine dreigeteilte Zeitrechnung. Vor Relotius, während Relotius, nach Relotius.

Der «stern» hatte jahrelang, eigentlich bis heute daran zu knabbern, dass die entdeckten Hitlertagebücher nicht nur mit «FH» aussen signiert waren, weil der Fälscher gerade kein A in Frakturschrift zur Hand hatte. Sondern Ruf, Reputation, Seriosität, Glaubwürdigkeit des «stern» über Jahre, über Jahrzehnte schädigten. Man kann sagen, von diesem Schlag erholte sich der Nannen-«stern» nie mehr.

Der Fall Relotius beim «Spiegel» war eigentlich noch gravierender. Hatte der Star-«stern»-Reporter Gerd Heidemann – nach der Enttarnung des grossen Unbekannten der deutschen Literatur, der nur unter seinem Pseudonym B. Traven auftrat, nicht garantiert, dass er den Jahrhundert-Scoop gelandet habe? Recht schnell stellte sich heraus, dass es der Jahrhundert-Scoop war, aber leider als Fälschung. Letztlich brachte das dem «stern» als mildeste Bestrafung ein paar Jährchen Knast auf Bewährung ein.

Bei Relotius liegt der Fall (leider) bedeutend anders. Wenn man nachverfolgt, wie hier das ganze Elend des modernen Gesinnungsjournalismus zu Tage trat, erschrickt man noch in der Retrospektive. Eigentlich sollte jeder leitende Redaktor fristlos entlassen werden, wenn er diese zwei Sätze sagt:

  1. Was ist unsere These bei diesem Stück, die Storyline?
  2. Was wollen wir für Reportageelemente in dem Stück, worüber und möglichst nah?

Kopf- und Schreibtischgeburten entstanden

Und so entstanden absurde Kopfgeburten wie jene Story, die aus reinem Zufall Relotius schliesslich das Genick brach. Ein «Spiegel»-Reporter begleitet unerkannt eine Mutter mit Kind, arm und allein, Nationalität egal, aus Zentralamerika über Mexiko an die US-Grenze. Und der zweite Reporter sucht nach einer möglichst rabiaten Bürgerwehr, die die andere Seite bewacht.

Ein Auftrag wie für Relotius gemacht; gefährlich, neu für ihn. «Andere machten sich jetzt wohl in die Hose, und ich kann sie sehr gut verstehen.» Das waren Juri Gagarins letzte Worte, bevor die Rakete mit dem üblichen Donnern abhob. Haben Sie’s geglaubt? Ts, ts.

Relotius musste da ran und dort ran und enthüllen und aufdecken, dass es keine Art hatte. Wie er das nur immer wieder schaffte, fragte man sich innerhalb und ausserhalb des «Spiegel». Aber vielleicht sollte man bei einem solchen Wunderknaben gar nicht genauer hinschauen, sagte sich das hier federführende Ressort. Relotius zeigte, dass nichts unmöglich war, auch einem, der in den nächsten Minuten tot gespritzt wird, dabei in die Augen zu schauen und darüber zu schreiben.

Natürlich war das nicht möglich, und der «Spiegel» erwähnt seither viel kleinlauter, dass er dann schon eine ganze Reihe von Kontrollinstanzen zwischen der Abgabe eines Manuskripts und der Publikation habe, die eine Ungenauigkeit oder gar Fälschung verunmögliche. Tat es nicht, weil Relotius – ein geschickter Menschenfänger wie jeder Betrüger — das ablieferte, was das im roten Bereich drehende Ressort «Gesellschaft» von ihm wollte.

Da es bei einer Reportage tatsächlich so ist, dass der Reporter den Ereignissen nach gusto einen Spin geben kann. Durch entsprechende Darstellung von Protagonisten – vor allem aber durch das, was er ihnen entlocken kann. Und verständlich, dass da gerade dem Tonband der Saft ausgegangen war. Selbst dazu war Relotius in einem Fall offenbar zu faul, und so stürzte sein Kartenhaus zusammen, das zuvor bis in die Chefetage hinein verbittert verteidigt und für stocksolide erklärt worden war.

Mit der brutalstmöglichen Aufklärung, neuen Kontrollinstanzen und dem Demontieren der Leitung des Ressorts, in dem Relotius tätig gewesen war, meinte man, das Problem einigermassen eingezäunt zu haben. Zudem schrieb eine der letzten real existierenden Edelfedern des «Spiegel» ein mea culpa, illud mihi culpa, wie es nur Ullrich Fichtner hinkriegt.

Neue Exerzitien für Relotius

Daraufhin meldete sich Relotius ab und war eine Zeitlang in einer psychiatrischen Anstalt versorgt. Zu seinen Exerzitien gehörte offenbar, sich bei allen Abnehmern seiner Lügenstorys dafür zu entschuldigen. So auch beim Schweizer Magazin «Reportagen», für das er fünf Relotius-Stücke, natürlich voller Lug und Trug, einreichte. Nach der Entschuldigung blieb man in Kontakt, und schliesslich durfte der Chefredaktor von «Reportagen» mitsamt Margrit Sprecher ein Interview mit Relotius führen.

Das ist natürlich ein Scoop, der im Medienkuchen dafür sorgt, dass es kräftig staubt. Aber ausserhalb der sozusagen Direktbetroffenen? Interessiert das keinen Menschen mehr. Doch Scoop ist Scoop, also trompetete «Reportagen», die meisten Medien zogen mehr oder minder ehrfürchtig nach; nun dürfte das mit den Buchverkäufen geritzt sein.

Ach, der Inhalt des Interviews? Völlig unerheblich, uninteressant, lausig vorbereitet, ein Trauerspiel, bei dem schon die ersten Zeilen reichen, für leichte Hektik zu sorgen. Nun ist genau der Relotius wieder aus der Versenkung aufgetaucht:

«Mein Verhalten hat diese Verschwörungstheorien scheinbar bestätigt. Ich kann das nicht wiedergutmachen, aber versuchen zu erklären, dass mein Handeln nichts damit zu tun hatte, sondern mit meinen persönlichen Fehlern.»

So spricht ein braver Junge, bei dem die Therapie anschlägt. Nichts beschönigen, nur erklären und entschuldigen, im Ernstfall zurück in die psychiatrische Anstalt. Während alle «Spiegel»-Frauen und -Mannen sich schon salviert haben und Relotius zu – richtig – dem bedauerlichen Einzelfall erklärten, der er nie war, der zudem ohne Wissen seiner Vorgesetzten (was auch nicht völlig der Wahrheit entspricht) eine mission impossible nach der anderen abspulte, bei der er unbeschädigt aus jeder Schlägerei, jedem Schusswechsel mit immer grösserem Gerät hervorging, sozusagen.

Während jeder weiss, dass so ein Gaga nur in Comixheftchen möglich ist, räumte Relotius so ziemlich alle Reportagepreise ab, unter Absingen von Lobeshymnen, die im Nachhinein sehr, sehr peinlich sind.

Dass man ihm nun das Wort erteilt und er es auch ergreift, damit tut er sich keinen Gefallen, tut sich «Reportagen» keinen Gefallen. Denn wen interessieren die seelischen und geistigen Abgründe, die Relotius angeblich zu seinem Tun getrieben haben sollen? Keinen – ausserhalb des Medienkuchens.

1 Antwort
  1. Simon Ronner
    Simon Ronner sagte:

    Mir ist der Fall Relotius von Anfang an extrem heuchlerisch reingekommen. Ein Bauernopfer, auf welches aggressiv eingedroschen wird, alleine mit dem Zweck, sich damit plakativ von ihm und seinen Methoden zu distanzieren. Doch wie man weiss: Die grössten Kritiker der Elche, es sind oftmals selbst welche.

    Fakten und Ergebnisse von Recherchen einseitig selektieren und gewichten? Protagonisten in einem ganz bestimmten Licht erscheinen lassen? Gegenstimmen auslassen? Kennen wir doch. Nichts anderes als der zum Standard gewordene Gesinnungsjournalismus, den man in den meisten Medienerzeugnissen jeden Tag mehr oder weniger ausgeprägt beobachtet. Relotius hat alles noch mit freien Erfindungen angereichert und mag übers Ganze dreister vorgegangen sein als Berufskollegen. Doch die Absicht hinter all diesen Methoden, einer Story den gewünschten Drift zu geben, sie ist schlussendlich dieselbe.

    Darum ist es heuchlerisch, wenn sich die Branche nun erschüttert gibt, wahnsinnig empört ist, sich als Ankläger inszeniert.

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