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Wieso können wir das nicht?

Wer richtig melancholisch werden will, mache einen Streifzug durch angelsächsische Medien.

Sicher, der potenzielle Leserkreis ist etwas grösser, wenn man auf Englisch publiziert. Mehr als 360 Millionen Muttersprachler, sicher über 1 Milliarde Menschen, die Englisch als Zweitsprache benutzen oder zumindest verstehen.

Aber Quantität alleine kann’s ja nicht sein, sonst wären die besten Zeitungen der Welt auf Mandarin abgefasst, oder Spanisch, da gibt es fast 550 Millionen Muttersprachler. Dagegen gibt es nur 130 Millionen, die Deutsch beherrschen. Also mehr oder weniger.

Dafür soll es ja angeblich die Sprache der Dichter und Denker sein. Ein Blick in die deutschsprachigen Medien bestätigt das nicht unbedingt. In Deutschland wird die Luft nach FAZ, «Die Zeit», «Die Welt» und halt immer noch «Der Spiegel» recht dünn. Österreich ist zwar das Land der Zeitungsleser im Kaffeehaus, aber eigene Produkte: schaler Kaffee.

Die Schweiz, oh je. Natürlich die NZZ, aber die reisst auch nicht alles raus, und sie steht so schrecklich alleine da. Die «Weltwoche» bietet auf ihre Art mit überschaubaren Bordmitteln jede Woche immer noch mehr An- und Aufregung als die gesammelte Tagespresse. Aber sonst? Erstaunlich, wie spurlos das Schweizer Gebühren-TV und -Radio jährlich 1,45 Milliarden Franken versenkt.

Melancholisch bis depressiv wird man allerdings, wenn man angelsächsische Medien durchblättert oder scrollt.

Da kommt keine Freude auf

«The Guardian», in vielen weltweiten Rankings immer auf den vordersten Plätzen.  Webseite, grafische Aufbereitung von Themen, Vielfalt: top.

Herausgegeben von einer Stiftung; zwar auch gerupft durch die Medienkrise und Corona, aber immer noch miles above von allem, was auf Deutsch erscheint. Kein Wunder, hat sicher eine Riesenauflage, mag man nun denken. Think twice, die Auflage beträgt rund 130’000 Exemplare

Das sind Infografiken, die den Namen verdienen.

Dann hätten wir, daran führt immer noch kein Weg vorbei, «The New York Times». Immer noch eine Referenzgrösse für Qualitätsjournalismus.

Man kann man nur grün vor Neid werden, mit über 1000 redaktionellen Mitarbeitern. 1000. Nicht immer fehlerfrei und sehr parteiisch gegenüber Ex-Präsident Trump, aber weiterhin eine halbe Million Auflage, vor allem aber: profitabler Internet-Auftritt. Es gibt genügend Leser, die bereit sind, für diese Qualität und Breite etwas zu bezahlen. Übrigens auch noch im Wesentlichen in Familienbesitz. Die Sulzbergers sahen die NYT aber nicht in erster Linie als Milchkuh. Im Gegensatz zu den Schweizer Medienclans.

Der NYT-Tower in New York.

Auch die Wirtschaftspresse ist eine Klasse für sich

Die Wirtschaftspresse wird zweifellos vom «Wall Street Journal» angeführt. Längst nicht mehr auf reine Wirtschaftsthemen fokussiert, erscheint das Blatt auf Englisch, Chinesisch und Japanisch. Auflage: über 2 Millionen Exemplare. Mehr, als in der Schweiz insgesamt pro Tag gedruckt wird.

Es ist Pflichtlektüre, Benchmark und absoluter Qualitätsstandard in der Berichterstattung, ein Machtfaktor zudem. So viel geballte Kompetenz muss sicherlich schweineteuer sein, wenn Schweizer Tageszeitungen schon mehr als 300 Franken im Schnitt für die digitale Ausgabe verlangen. Nun ja, ein Jahr WSJ online kostet schlappe 52 Dollar. Einen Dollar pro Woche (nicht pro Monat, wie ein Leser zu Recht monierte).

Dicht gefolgt wird das WSJ vom englischen «Economist» und natürlich der «Financial Times». Im deutschen Sprachraum wurde die FT in letzter Zeit wieder sehr bekannt, weil sie quasi im Alleingang das Schwindelkonstrukt Wirecard entlarvte. Lange Zeit verteidigten deutsche Medien den Konzern gegen einen angeblich ungerechtfertigten Angriff der neidischen Engländer. Bis Wirecard Insolvenz anmelden musste und in aller Hässlichkeit nackt und betrügerisch dastand.

Ein Mosaiksteinchen dabei: Die FT kam auf die naheliegende Idee, mal einen Reporter in Asien zu den Adressen zu schicken, wo angeblich gewaltige Umssätze von lokalen Partnern gemacht wurden. Es handelte sich aber um ein bescheidenes Einfamilienhaus, eine leerstehende ehemalige Autowerkstatt, usw. Kein deutschsprachiges Medium wollte das Geld aufwerfen, dass diese naheliegende Recherche gekostet hätte.

Besser aufkaufen als selber machen

Vor Kurzem hat der deutsche Springer-Verlag «Politico» gekauft. Ein Beispiel der sehr lebendigen US-Medienszene. Eigentlich von bescheidener Auflage (40’000 Exemplare), ausserhalb der Sitzungszeiten des Kongresses erscheint das Blatt nur wöchentlich einmal. Aber im Internet und durch die Konzentration auf die Washingtoner Politik mit 350 Mitarbeitern, ist «Politico» ein Beispiel von neuen Medien. Erst 2007 gegründet, soll Springer dafür angeblich fast 700 Millionen Dollar aufgeworfen haben.

Solche Neugründungen gibt es zu Hauf; die «Huffington Post» ist wohl das bekannteste Beispiel, obwohl sie mit Internationalisierung und der Eroberung des deutschsprachigen Marktes scheiterte.

Dann gäbe es noch den «New Yorker», «The Atlantic», «Mother Jones», den «Rolling Stone», «Vanity Fair», weitere exzellente Tageszeitungen, darunter auch die «India Times», und, und, und. Es gibt Experimente wie «Substack», eine Plattform für die vielen Tausend Journalisten, die auch in den USA ihre Stelle verloren in den letzten Jahren. Hier  gibt es moderne Mittel zur Distribution. Im deutschen Sprachraum wird das Pausenzeichen gesendet.

Schweizer Medienmanager (Symbolbild).

Es gäbe noch Dutzende von weiteren Beispielen, aber wir sind schon depressiv genug und lassen es dabei bewenden. Aber so viel zum Thema, dass die digitale Transformation in der Schweiz nur mit gewaltigen Staatshilfen gestemmt werden könne. Das ist nichts anderes als: der Steuerzahler soll für die Unfähigkeit der wohlbezahlten Medienmanager und der geldgierigen Besitzerclans abdrücken.

Auch Dürer wusste, was Melancholie ist.

«Regelmässig habe ich bis 1 Million Leser»

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Hier folgt Teil 3 einer dreiteiligen Interview-Serie.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Das neuste Buch von Taibbi, erscheint demnächst.

Wer ist momentan Ihr Redaktor?

Ich habe keinen.

Niemand liest Ihre Texte vor der Publikation? 

Doch, ich habe Gegenleser, einen Assistenten für Lektorat und Korrektur, manchmal einen Dokumentaristen. Aber ich werde mehr Leute einstellen – Journalisten arbeiten besser mit Redaktoren. Mir selbst haben einige enorm geholfen.

Womit wir bei Substack sind, der neuen Blogging- und Newsletter-Plattform, auf der Sie Ihre Texte veröffentlichen, ohne Redaktor und Newsroom. Wie funktioniert das genau?

Es ist kein Geheimnis, dass ich einen dieser Substack-Pro-Deals angenommen habe.

Immerhin 250 000 Dollar pro Jahr, quasi als Vorschuss. 

Das war ein Fehler, de facto habe ich eine Menge Geld liegenlassen. Aber immerhin verdiene ich fast dreimal mehr bei Substack, als ich als Angestellter je verdient habe – auch im Vergleich zu meinem Festvertrag beim «Rolling Stone»-Magazin. Ich habe angefangen, Leute anzustellen, eine Vollzeitstelle, die den Laden schmeisst, Freelancer, eine Person für Video, Audio-Editing, und ich will einen Cartoonisten. Der Betrieb meines Substack-Mediums «TK» wird wohl aus fünf Leuten bestehen, dazu noch ein Podcast mit drei weiteren Angestellten. Auch möchte ich erwähnen, dass meine Substack-Leserschaft mindestens so gross ist wie bei klassischen Medien. Regelmässig habe ich 500 000 bis 1 Million Leser – das war etwa beim «Rolling Stone» eher die Ausnahme.

Wie viele von ihnen bezahlen?

Das ist die kostenlose Version. Bezahlen tun ein paar zehntausend – mehr sage ich nicht, sonst fangen sie alle an zu rechnen . . .

Glückwunsch!

Dass das Bestand hat, wage ich zu bezweifeln.

Wieso? Wo stösst das Substack-Modell an Grenzen? 

Es gibt in der gegenwärtigen Medienlandschaft raue Mengen an Menschen, die sich von traditionellen Medienorganisationen wie der «New York Times» oder dem TV-Sender CBS abwenden. Sie sind desillusioniert und landen auf der Suche nach News als Abonnenten auf Substack. Gleichfalls kann das nicht ewig so gehen. Letztlich wird eine Art institutioneller Antwort erfolgen, eine Innovation traditioneller Medien. Aber es gibt einen Sättigungspunkt, denn die Geldmenge, die Leute für Medien aufwenden, ist endlich. Momentan allerdings verlieren die grossen Organisationen immer noch Leser, eine Folge der Desillusionierung der letzten 18 Monate, die wir so in diesem Land lange nicht mehr gesehen haben.

Was wäre denn eine institutionelle Innovation der Medien, die den Trend umkehren könnte?

Wir sind ein kapitalistisches Land. Erkennt jemand ein Publikum, mit dem sich Geld verdienen lässt, raufen sich ein paar Investoren zusammen und kreieren das entsprechende Produkt. Ein News-Netzwerk, das sich als echte Alternative zu Fox News und MSNBC positioniert. Auch sind viele Regionalmedien eingegangen, wir haben Tausende Lokalzeitungen verloren, nicht aber ihr Publikum. Ein Konglomerat könnte wohl ein Netzwerk mit Lokaljournalisten aufbauen, wo man online und On-Demand Lokal-Storys beziehen kann. Momentan sind die lokalen und alternativen Medien verschwunden, und die übrig gebliebenen alten, traditionellen Medien des Landes werden immer schrecklicher. Jemand sollte ihnen einmal sagen, dass Trump weg vom Fenster ist. Aber sie machen immer weiter, wie ein Amputierter mit Phantomschmerzen, der nicht glauben kann, dass das Körperteil weg ist. Das schafft eine gewaltige Chance für jeden, der ein gutes Medienprodukt herausbringt.

*Matt Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

 

Hier geht’s zu Teil 1.

Hier geht’s zu Teil 2. 

 

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.

 

 

Aktivistischer Journalismus ist langweilig – aber macht süchtig

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Linken wie rechten Journalisten wirft er vor, nur noch dem eigenen Publikum zu schmeicheln.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Die Bitte von ZACKBUM.ch wurde erhört: Wir dürfen dieses Interview übernehmen. Heute Teil 1, morgen folgt Teil 2.

Herr Taibbi, im Jahr 1848 war Karl Marx Chefredaktor der «Neuen Rheinischen Zeitung», Friedrich Engels sein Stellvertreter – und zusammen wollten sie eine Revolution herbeischreiben. Finden Sie das problematisch?

Nein. Es gibt viele Journalismusmodelle. In den USA selber hatten wir verschiedene Phasen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Zeitungen offen politisch, einer Partei oder Gewerkschaft verbunden – das war normal. Der Begriff der Objektivität taucht erst im Zeitalter der Massenmedien auf, und dies nicht aus ethischen Gründen, sondern aus kommerziellem Kalkül.

Moment, journalistische Objektivität war kommerzieller Zweck?

Gewiss. Erinnern Sie sich an die weltbekannte sachliche Stimme der CBS-«Wochenschau» am Radio im Zweiten Weltkrieg? Das war Lowell Thomas. Thomas war ein hochtalentierter Schauspieler und wollte die Nachrichten dramatischer vortragen, die Leute aufwühlen, Kontroversen lostreten. Sponsoren aber verlangten eine trockene und monotone Moderation, die in den nächsten fünfzig Jahren zum Standard wurde. Die Moderation sollte niemanden erregen oder beleidigen, um möglichst viel Werbung an möglichst viele Menschen zu verkaufen.

Das hatte nichts mit Ethik zu tun. Es ging nur ums Geldverdienen.

Also verdient man heute wieder Geld mit parteiischer Berichterstattung wie Anfang des 20. Jahrhunderts.

Ja, wir greifen hierzulande definitiv auf eine frühere Version von Journalismus zurück. Wir hatten in Amerika nie eine oberste Medienaufsicht. Es gibt die Federal Communications Commission, die ein paar lockere Regeln vorgibt. Es gab die Fairness-Doktrin, ebenfalls eine lose Weisung, die einzig ab und an auch andere Gesichts- und Standpunkte verlangte. Heute dagegen haben wir ein quasistaatliches politisches Programm der parteiischen Moderation von Inhalten, das sicherstellen soll, dass Kontroversen, Verschwörungstheorien und Fake-News getilgt werden. In Friedenszeiten hatten wir so etwas noch nicht.

Aber es gibt doch journalistische Objektivität?

Ich glaube nicht wirklich an Objektivität im Journalismus, das ist allenfalls ein erstrebenswertes Ziel. Objektiv zu sein, heisst im US-Journalismus, eine Sache aus so vielen Winkeln wie möglich zu betrachten, die Standpunkte zu sortieren und der Leserschaft zu erzählen, ohne die eigenen Gefühle einfliessen zu lassen. Aber persönliche Gefühle kann man nicht eliminieren. Jede kritische Annahme reflektiert eine vorgefasste Meinung. Ein grosser oder kleiner Titel, das Bild auf der Titelseite oder auf Seite 15, ob ein Zitat prominenter gesetzt wird als ein anderes – all dies sind Entscheidungen, mit denen man Gewichte und Standpunkte setzt.

Also ist journalistische Objektivität ein Mythos?

Es ist wohl sinnvoll, danach zu streben. Aber der Ausdruck ist in letzter Zeit in Amerika in Ungnade gefallen. Die alte Formel, wonach man beide Seiten zu Wort kommen lassen soll, gilt heute als langweilig und mittlerweile selbst propagandistisch. Objektivität ist allenfalls noch wichtig als Absichtserklärung, im Sinne von journalistischer Fairness.

An die Stelle der Objektivität tritt heute journalistischer Aktivismus. Schon Hannah Arendt und James Baldwin arbeiteten nach diesem Prinzip, Rush Limbaugh und jüngere «woke» Journalisten ebenfalls. Was unterscheidet heute «guten» von «schlechtem» journalistischem Aktivismus?

Es gibt viele Arten von Journalismus, und sie alle haben ihren Wert. Mein Vater war ein klassischer News-Reporter, der vor dem brennenden Haus über den Hausbrand berichtete. Zeit seines Lebens hat er kein Editorial geschrieben. Ich habe das Metier ganz anders erlernt. Meine Helden waren Henry Louis Mencken, Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe. Dementsprechend glaube ich, dass subjektiver Journalismus, der naturgemäss streitbar argumentierend und aktivistisch ist, einen wichtigen Platz einnimmt.

Also haben Sie kein Problem mit journalistischem Aktivismus?

Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem.

Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stossrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda. Ein echter Journalist steht in der Verantwortung, unvoreingenommen für verschiedene Ansichten und Erklärungen offen zu bleiben. Leider gibt es hierzu in US-Medien eine immer stärkere Tendenz zu vorgefassten Meinungen, auf linker wie rechter Seite. Das Publikum weiss, was es erwartet: ausschliesslich Nonstop-Kritik an Demokraten oder exklusiv an Trump und den Republikanern. Wenn vorhersehbare, einfache Standpunkte statt komplizierter Wahrheiten verbreitet werden, ist das kein Journalismus mehr, sondern einfach langweilig.

Wenn das so langweilig ist, warum hat es dann Erfolg?

Weil es süchtig macht. Fox News und MSNBC verkaufen eine Konsumentenerfahrung von politischer Solidarität, mit der ein Überlegenheitsgefühl gegenüber einer anderen Gruppe bestätigt wird. Die klassische Fox-Formel beruht auf Bildern von unverantwortlichen Leuten, die Gesetze brechen und ausländische Terroristen sind. Dem Publikum wird das Gefühl gegeben, es sei die Verkörperung der aufrechten, gesetzestreuen, intelligenten und hart arbeitende Leute. MSNBC oder CNN machen genau das Gleiche. Sie verkaufen das Erlebnis, sich über QAnon-Idioten lustig zu machen, jeden Tag etwas anderes, über das man sich aufregen kann. Die Wut nach dem Klick wird zur Abhängigkeit. Nachrichtenlesen ist heutzutage eine Sucht, so gefährlich wie Zigaretten und gesättigte Fette. Man geniesst das Ritual, auf dem Mobiltelefon etwas Schreckliches zu lesen, Ärger und Empörung zu erleben und dann mit anderen zu teilen. Was die Medien machen, ist intellektuell uninteressant, aber höchst effizient.

Sollte Geschriebenes rezeptpflichtig werden oder zumindest einen Beipackzettel zu Risiken und Nebenwirkungen bekommen?

Das ist keine schlechte Frage. Wir haben in den USA ein hohes Bewusstsein darüber, was Verbraucher in ihre Mägen oder Lungen lassen, wie sicher ihr Auto ist. Weniger besessen sind sie von der Frage, was sie in ihre Hirne lassen. Intellektuelle Konsumgüter sind ebenfalls Produkte, weshalb das Bewusstsein darüber erweitert werden sollte. Schliesslich ist das kein öffentlicher Dienst, sondern ein Wirtschaftszweig. Die drei grössten Kabelnetzwerke machten vergangenes Jahr Gewinne über 2,85 Milliarden Dollar, und das in einer Art und Weise, die nicht gesund ist.

Wollen Sie Mediengesundheitsminister werden?

O nein. Aber ich bin in diesem Geschäft gross geworden, ich liebte und liebe diesen Beruf. Was ich in den letzten zwanzig Jahren beobachtet habe, beunruhigt mich sehr. Meine Texte sind ziemlich offen rhetorisch, meinungsbasiert, haben klare Standpunkte und eine Überzeugungsabsicht. Sie sollen zum Denken anregen. Aber viele Menschen lesen gewöhnliche Nachrichtenartikel, als ob es die blanke Wahrheit sei, ohne zu verstehen, dass da eine Person ein Argument aufbaut. Das finde ich bedenklich.

Wie steht es mit der Wahrheit im Journalismus?

Mit dieser Frage beginnt der 2. Teil des Interviews morgen.

*Matt Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.

Pflichtlektüre: kennen Sie diesen Mann?

Selten bringt’s ein aktiver Journalist so pfeilgerade auf den Punkt. Was? Eigentlich alles. Sein Name: Matt Taibbi.

In der Schweiz herrscht Verlautbarungs-, Gesinnungs- und Nabelschau-Journalismus. Über ein Gendersternchen, über den feinen Hauch einer möglichen Diskriminierung, über Sklavenhandel wird viel mehr Energie, Buchstaben und Hirnschmalz verschwendet, als auf die wirklich wichtigen Dinge des Journalismus.

Wie das gehen könnte, wie das geht, erklärt Matt Taibbi. Natürlich kein Schweizer, sondern US-Reporter. Er verdient inzwischen bei Substack eine Viertelmillion Dollar im Jahr. Was er als Fehler bezeichnet, weil er sich auf eine Fixzahlung einliess. Sonst wären es noch viel mehr.

Seine Helden waren Henry Louis Mencken, Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe. Wer ab Substack «hä?» sagt, sollte dringend an der Infofront aufrüsten. Wer intelligente Antworten auf intelligente Fragen zu den aktuellen Themen des Journalismus lesen will, sollte unbedingt «Aktivistischer Journalismus ist langweilig – aber er macht süchtig» lesen.

Zugegeben, da steht eine Bezahlschranke der NZZ davor. Aber da wir bei ZACKBUM bekanntlich nicht so schnell begeistert sind, hier aber Jubelschreie ausstossen, haben wir die NZZ angebettelt, dieses Interview übernehmen zu dürfen.

Wir sind so weit gegangen notfalls auf Wunsch auch kurz vor dem Eingang an der Falkenstrasse auf die Knie zu gehen. Wir hoffen auf huldvolle Gewährung, ohne Kniefall.

Damit wir hier mehr servieren können als dieses Appetithäppchen, die als Zitate durchgehen sollten:

 

«Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem. Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stossrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda.»

 

NZZ: Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen oder Propositionen – ist das nicht das Kerngeschäft von Journalisten?

 

  • «Das ist Richtigkeit, Fehlerfreiheit, aber die Wahrheit ist etwas Grösseres.»
  • «Die Wahrheit begreift womöglich nur ein grossartiger Künstler, wenn er etwas Schönes und Zeitloses schafft. Aber die journalistische Wahrheit entwickelt sich ständig weiter. Es ist beinahe unmöglich, sie genau zu fassen.»

Fortsetzung folgt – hoffentlich.

Probieren statt jammern

Strategie der Schweizer Medienhäuser: jammern, bis die Subvention kommt. Es geht auch anders.

Kuba macht’s seit 60 Jahren erfolgreich vor. Eigenes Versagen, unfähige Funktionäre, eine am Boden liegende Landwirtschaft, turmhohe Schulden? Moment bitte, daran ist nicht etwa das Regime schuld, sondern die grausame Handelsblockade der USA.

Diesem Vorbild eifern die Schweizer Medienhäuser nach. Zum Skelett runtergesparte Redaktionen, zusammengepfercht in Zentralredaktionen? Ins Internet abschwirrende Inserateplattformen für so ziemlich alles? Inhaltlich krankgeschrumpfte und papierdünn gesparte Printausgaben für stolze Preise? Das Zerschlagen der Lokalberichterstattung? All das eiskalt serviert als Straffung, Fokussierung, Verbesserung?

Wir sind nicht dran schuld

Da sind nicht wir daran schuld, jammert die Teppichetage, der Overhead, die teuer bezahlten Manager. Wer konnte denn ahnen, was das Internet alles auslöst? Wer konnte denn kommen sehen, dass wir uns von Google, Facebook & Co. die Butter vom Werbebrot nehmen lassen? Unvorhersehbar, dass die Ausgaben für Online-Marketing als einzige weiter steil ansteigen. Und dann noch Corona. Also wir sind nicht daran schuld.

Dann jammern sie weiter, dass man doch dies und das probiere. «20Minuten», weiterhin gratis, aber nun auch mit bewegten Bildern. «watson», das Millionengrab aus dem Hause Voigt, von einem Verleger weitergeführt, der sich nicht nachsagen lassen will, dass er zu alt für Innovation sei.

Dazu dies und das, pay per view, Tagespass, wenig gratis, viel Bezahl-Content, gelegentlich auch mal eine multimediale, interaktive Story. Da spürt man beim Lesen, wie sich die Macher vor Ehrfurcht selber auf die Schultern gehauen haben. Mehr geht halt nicht, was soll man machen? Ach ja, doch, vierte Gewalt, Kontrollinstanz, demokratierelevant, darf nicht absaufen. Also her mit den Subventionen.

Welche Subventionen für wen, und warum nicht?

Natürlich nicht für alle, nicht so, mehr für Print, mehr für die Grossen, nichts für Gratis-Plattformen, grosser Streit. Tamedia bleibt der Goldesel des Coninx-Clans. Ringier ist mitten im Umbau zum digitalen Gemischtwarenladen. CH Media verdaut immer noch den Zusammenschluss mit den NZZ-Zeitungen. Nur die NZZ setzt weiterhin unverbrüchlich auf journalistischen Content für die happy few.

Na und, sagen da die hochbezahlten Manager, meckern kann jeder. Was gibt es denn für Alternativen zu kassieren, jammern und um Subventionen betteln? Jede Menge gibt’s. Letzthin mal die Webseite von «The Guardian» angeschaut? Oder von «The Economist»? Letzthin mal einen Artikel in «Financial Times» gelesen und keine feuchten Augen bekommen? Gehört, dass die «Washington Post» ihren Newsroom weiter ausbaut? Auf 1010 Redaktoren?

Schon mal darüber nachgedacht, wieso ein eigentlich völlig aus der Zeit gefallenes Zeitungsmodell wie «Le canard enchaîné» dermassen erfolgreich ist? Oder «The New Yorker»? Selbst «Mother Jones», «The Atlantic», «Vanity Fair»? Ach, kann man alles nicht vergleichen? Englisch, viel grösseres Zielpublikum, Ausnahme, und was hat das mit neuen Formen im Internet zu tun?

Schon mal was von neuen Entwicklungen gehört?

Okay, dann schon mal was von Substack gehört? Nein? Der neuartigen Plattform, auf der unter anderem Glenn Greenwald, der Gefährte von Edward Snowden, und viele andere grosse Namen und hoffnungsvolle Newcomer publizieren? Schon mal davon gehört, dass die paar tausend auch in den USA entlassenen Journalisten nicht einfach jammern, sondern Blogs, Newslettern, One-Man-Shows zu neuer Blüte verhelfen?

Oder eben von Plattformen wie Substack unterstützt werden? Obwohl in den USA die Medienszene sich zwar auch quält, aber fröhlich steigende Online-Abonnements und Leserzuspruch verzeichnen kann? Weil auch Einzelnewsproduzenten natürlich davon träumen, die nächste Hufpost zu werden, aber mit 1000 Subskriptionen à 100 Dollar auch schon recht angenehm leben können?

Welches Medienhaus in der Schweiz behauptet nicht nur, in Content zu investieren und die Möglichkeiten des Internets voll auszuschöpfen? Indem der Verleger den Journalisten mit auf den Weg gibt, dass sie in Zukunft auch filmen und aufzeichnen sollen? Indem aus reinen Spargründen auch online und Print zusammengelegt werden, obwohl das eine mit dem anderen so viel zu tun hat wie eine Dampflok mit dem TGV?

Versuch und Irrtum, neuer Versuch, besserer Irrtum

Try and error, natürlich. Die englischsprachige Ausgabe von «De Correspondent» aus Holland flopte grandios, nach einem Jahr wurde der Stecker gezogen. Die Inhalte waren viel zu beliebig, mehr Welt- und Gesinnungsjournalismus, kein Grund für genügend Abonnenten, den Mitarbeitern bei der Selbstbefriedigung zuzuschauen. Aber es gibt «The Dispatch», es gibt weiterhin die erfolgreichen Grossblogs.

Vor allem: es wird agiert, nicht reagiert. Es wird probiert, nicht Bedenkenträgerei versprüht. Es wird Neuem eine Chance gegeben, aus dem Wissen heraus: jeder neue Erfolg im Content-Journalismus hilft allen. Und in der Schweiz? Flops und Millionengräber. Denn es ist ja nicht so, dass man hierzulande kein Geld zusammenkratzen könnte. Nur verröstet man es dann mit völlig am Markt und Zielpublikum vorbeigebastelten Organen. «TagesWoche», «bajour», «Republik», Trauerspiele. Mal schauen, ob es konservative Kreise besser können.