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Journalismus schafft sich ab

Das kann kein Geschäftsmodell mehr sein.

Journalisten opinieren, räsonieren, analysieren, schätzen ein, meinen, fordern, wissen es besser. Das ist zwar manchmal mühsam, aber erlaubt.

Journalisten spielen sich als als Genderpäpstinnen wie Andreas Tobler, als Konzernbüttel wie Philipp Loser, als Kriegsgurgeln wie Georg Häsler, als Panikkreischen wie Marc Brupbacher oder als Stimme der Gutmenschen wie Reza Rafi auf. Das ist manchmal unerträglich, aber Ausschuss wird überall produziert.

Journalisten kreieren Narrative und Framings. Sie bestehen darauf, dass Donald Trumps Konkurrenten durchaus noch intakte Chancen hätten, genügend Delegiertenstimmen zu sammeln, um Kandidat der Republikaner in den Präsidentschaftswahlen zu werden. Damit wiederholen sie ihre Fehler bei den vorletzten Wahlen: am Schluss erklären zu müssen, wieso sie krachend danebenlagen. Journalisten sind nicht sehr lernfähig. Das ist extrem dumm. Dummheit existiert überall und ist bekanntlich lernbar.

Aber es gibt einen heiligen Gral im Journalismus, an dem man sich nur dann vergreift, wenn man sich abschaffen will. Es handelt sich um ein Einverständnis zwischen Journalist und Leser, das nicht mutwillig oder fahrlässig missbraucht werden darf.

Die einstmals auflagemässig grösste Zeitung der Welt hat dieses Prinzip sogar zu ihrem Titel gemacht. «Prawda», Wahrheit. Sie hatte versprochen, ihren Lesern nur die Wahrheit zu erzählen. Lenin und Trotzki kamen unabhängig voneinander auf die Idee, eine solche Zeitung zu publizieren. Ihr Herausgeber war der spätere langjährige Aussenminister der Sowjetunion Molotow. Er agierte im Hintergrund, offiziell gab es rund 40 Herausgeber, die von der zaristischen Zensur regelmässig verhaftet und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Sie waren sogenannte Sitzredakteure, dazu bereit, für anderen Strafen abzusitzen, die sie sich mit dem Verbreiten der Wahrheit einhandelten.

In ihren besten Zeiten hatte sie eine Auflage von über 10 Millionen Exemplaren. Allerdings verbreitete sie immer weniger die Wahrheit, immer mehr Lügen. Damit entkernte sie sich.

Nun kann man zu Recht fragen, was denn eigentlich die Wahrheit ist und wer zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden darf und die Autorität dafür hat. Niemand und jeder. Niemand ist im Besitz einer objektiven, einzig wahrhaftigen Wahrheit. Jeder glaubt an seine Wahrheiten, viele wollen wissen, dass sie die Wahrheit kennen.

Also ist alles relativ, alles erlaubt? Nein, eben nicht.

Denn es gibt eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen Berichterstatter und Konsument. Der Konsument bezahlt normalerweise dafür (sei es entweder mit Geld oder seiner Aufmerksamkeit oder seinen Daten), dass er sich darauf verlassen kann, dass ihm in Berichten über Gegenden oder Ereignisse, die er nicht kennt, kein Bären aufgebunden wird.

Wird diese Geschäftsgrundlage aufgehoben, ist der Journalismus am Ende. Sein Tod tritt nicht sofort, aber auf Raten ein. Deshalb beschäftigten viele Redaktionen früher Mitarbeiter, die sich der sogenannten Dokumentation widmeten. Also alle Fakten und Tatsachenbehauptungen checkten, die in einem Artikel vorkamen. Sie taten das zum Schutz des Redaktors vor Irrtümern und zum Schutz des Konsumenten vor Falschinformationen.

Sie sind als eine der ersten Abteilungen den Sparmassnahmen zum Opfer gefallen. In der Schweiz existieren sie nicht mehr. Gelegentlich werden mit grossem Brimborium Journalisten beauftragt, einen sogenannten Faktencheck durchzuführen. Das ist aber nicht mehr das gleiche.

Im deutschen Sprachraum leistet sich der «Spiegel» noch die grösste Dokumentarabteilung. Darauf ist er besonders stolz und wird nicht müde, die vielen Stationen aufzuzählen, die ein Manuskript durchlaufen muss, bis es publiziert wird. Der Grossfälscher Class Relotius sprengte diese Reputation in die Luft. Ihm gelang es jahrelang unentdeckt, frei erfundene Reportagen zu publizieren, bei denen sogar nachprüfbare Angaben wie Distanzen oder örtliche Beschaffenheiten erschwindelt waren, um dem Spin der Story zu dienen. Nicht einmal das fiel den Faktencheckern des «Spiegel» auf.

Sie waren, mitsamt allen anderen Kontrollinstanzen, voreingenommen. Sie hatten das Interesse verloren, zu schreiben, was ist. Sie wollten beschreiben, wie es sein sollte. Wie es ihrer Meinung nach zu sein hatte. Sie machten den alten erkenntnistheoretischen Zirkelschluss: wenn ich mit einer vorgefassten Meinung an die Wirklichkeit herangehe, finde ich in der Wirklichkeit das, was ich zuvor hineingetragen habe. Oder noch schlimmer: wenn ich es nicht finde, erfinde ich es.

Das ist keine lässliche Sünde, sondern eine Todsünde. Dafür gibt es leider im Schweizer Journalismus immer mehr kleine und grosse Beispiele. Eine Aufzählung wäre endlos, aber es sind zwei Tendenzen zu erkennen. Am häufigsten betroffen davon ist Tamedia. Dort hat eine wahrhaftige Verluderung der Sitten stattgefunden.

Die Leser belehren und mit absurdem Genderwahn quälen zu wollen, das ist verkaufsschädigend, aber noch nicht tödlich. Den Lesern keine Reportagen, sondern die Wiedergabe vorgefasster Meinungen zu servieren, das ist dumm, aber noch nicht tödlich.

Sich immer wieder dabei ertappen zu lassen, dass die vorgefassten Meinungen so stark sind, dass die Wirklichkeit, wenn sie nicht passt, passend gemacht wird, das ist tödlich. Wenn ein Präsident eine Meinung vertritt, die dem Berichterstatter nicht passt, dann ist es dennoch seine Pflicht, sie dem Leser wiederzugeben. Denn dafür bezahlt er, weil er selbst weder am WEF anwesend ist, noch Zeit oder Lust hat, die ganze Rede im Wortlaut anzuhören.

Wenn aber schon im ersten und auch im letzten Satz des Berichts die Wirklichkeit, höflich ausgedrückt, umgebogen wird, dann fühlt sich der Leser zu recht verarscht, wenn er das entdeckt. Und glücklicherweise gibt es in der Schweiz noch so etwas wie eine Pressefreiheit, wo solche Verbiegungen aufgedeckt und denunziert werden können. Das unterscheidet die Schweiz von Russland und der Ukraine.

Berichterstattung, wenn sie etwas wert ist, sollte dazu dienen, dem Käufer und Konsumenten dabei zu helfen, die grosse, weite Welt und auch seine nähere Umgebung besser zu verstehen. Oder zu begreifen, dass vieles, was sich abspielt, komplex, widersprüchlich, unübersichtlich, nicht fassbar ist. Die beiden aktuellen Beispiele dafür sind der Ukrainekrieg oder der Krieg im Gazastreifen. Noch nie verfügten wir über dermassen viele Informationsquellen, noch nie waren wir so ungenügend informiert.

Daraus entstehen Verschwörungstheorien, das sei Absicht, Manipulation, Bevormundung, von finsteren Mächten orchestriert, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Aber die Wahrheit ist hier viel banaler. Natürlich gibt es Heerscharen von Spin Doctors, die sich diesen Versuchen widmen. Natürlich wird Selenskyj – im Gegensatz zu Putin – hochkarätig und sorgfältig beraten, wie er öffentlich aufzutreten hat. Vom gedrechselten Inhalt seiner Reden bis zu seiner Kleidung, seinem Gesichtsausdruck.

Aber das wäre durchschaubar, wenn man sich die Mühe machte. Wenn sich der 100. Todestag eines Welterschütterers wie Lenin jährt, um das zweite aktuelle Beispiel zu nehmen, dann wäre eine Würdigung, eine Auseinandersetzung auf Niveau mit seinen Taten geboten, vor allem in einem Intelligenz-Blatt wie der NZZ. Wenn stattdessen übelwollend die Krankheitsgeschichte seiner letzten Jahre ausgebreitet wird, ist das zwar kein Verstoss gegen das Wahrheitsgebot, aber so jämmerlich, dass der Leser sich auch fragt, wieso er dafür einen Haufen Geld zahlt.

Fazit: Journalismus, der die Übereinkunft mit seinen Konsumenten einseitig aufkündigt, schafft sich damit ab. Das ist nicht den Umständen geschuldet. Sondern selbstverschuldet. In der Schweiz steht Tamedia am nächsten vor diesem Abgrund, gefolgt vom «Blick».

Ist der «Spiegel» die neue «Bunte»?

Als die «Bunte» People-Magazin wurde, war das noch originell.

Ein merkwürdiger Name muss nicht bedeuten, dass das Blatt erfolglos sei. Die «Bunte Illustrierte» (aus Zeiten, als bunt Gedrucktes noch wow war) ist nach wie vor eines der erfolgreichsten Magazine Deutschlands. Trotz Auflagenrückgang um über 50 Prozent seit 1998 verkauft die «Bunte» immer noch über 320’000 Exemplare.

Ihre Stärke ist Klatsch und Tratsch, aber auf durchaus höherem Niveau. Mit «Bunte» und «Focus», an dessen Erfolg zunächst niemand glaubte, ist dem Burda-Verlag ein erfolgreiches Duo gelungen, das jahrelang vom Ehepaar Markwort/Riekel geführt wurde.

Eine echte Konkurrenz für «Stern» und «Spiegel», die beiden Bertelsmann-Blätter. Der «Stern» verkauft noch 314’000 Exemplare, ein Minus von 71,4 Prozent seit 1998. Der «Spiegel» hält sich vergleichsweise gut mit etwas über 700’000 verkauften Exemplaren, ein Rückgang von lediglich 33,5 Prozent seit 1998.

Während aber «Bunte» und «Focus» von den ganz grossen Skandalen verschont blieben, machte sich der «Stern» mit den «Hitler-Tagebüchern» im Jahr 1983 unsterblich lächerlich. Hinter dem Rücken der Redaktion war die Chefetage auf eher billige Fälschungen eines Konrad Kujau reingefallen. So hatte der bei einem Tagebuch gerade kein A in Frakturschrift zur Hand und ersetzte es kurzerhand durch ein F.

Wer den Schaden hat, brauchte für den Spott nicht zu sorgen, zum Beispiel für die Frage, ob das nicht die Tagebücher von Fritzli Hitler seien.

Der «Spiegel» hat sich bis heute nicht vom Fall Relotius erholt. Der mit Preisen überschüttete Star-Schreiber, dem ein Scoop nach dem anderen gelungen sein sollte, der Reportagen möglich machte, an denen andere scheiterten, musste schliesslich einräumen, dass er das Meiste erfunden, gefälscht, geflunkert, geschönt hatte. Weil er aber das Narrativ der Redaktion bediente, die sich immer mehr darauf verlegte, Thesen-Journalismus zu betreiben, die sogar im Grössenwahn ernsthaft ankündigte, Donald Trump »wegschreiben» zu wollen, kam er lange Zeit damit durch.

Edelfeder Ullrich Fichtner musste seine ganze Schreibkraft aufwenden, um diesen Skandal schönzuschreiben, der ihn die schon auf sicher geglaubte Stelle des Chefredaktors kostete. Wie an einem Mantra klammerte sich der «Spiegel» an der Aussage seines Gründers Rudolf Augstein fest, «schreiben, was ist».

Dabei ist das sowieso nicht möglich, weil Beschreiben immer eine der möglichen Perspektiven auf die Wirklichkeit eröffnet. Beim «Spiegel» wurde das immer mehr zu «schreiben, was sein soll», oder gar «herbeischreiben, wie es sein sollte». Die Wahl Trumps war für den «Spiegel» schlichtweg «Das Ende der Welt», nur notdürftig abfedert mit der Unterzeile «wie wir sie kennen». Der «Spiegel» kannte sich dann selbst nicht mehr, und seither eiert er in einer Art herum, die beelendet.

Noch schlimmer ist aber, dass sich der «Spiegel» in die Gefilde des Boulevards, des Promi-Schnickschnacks begibt. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Serie undenkbar gewesen. Der «Spiegel» denunzierte den deutschen Comedian Luke Mockridge als mutmasslichen Vergewaltiger. Die Story basierte lediglich auf den Aussagen dessen geschiedener Frau. Der Komiker überlebte diesen Rufmord nur knapp, der «Spiegel» wurde gerichtlich gezwungen, grosse Teile seiner Behauptungen zurückzunehmen.

Es folgte eine «Enthüllung» über den «Bild»-Chef Julian Reichelt. Dem schloss sich eine Breitseite gegen Mathias Döpfner an, den Chef des Springer-Verlags. Der auf billigen Medienhype angelegte «Enthüllungsroman» des PR-Genies Benjamin Stuckrad-Barre war dem «Spiegel» eine Titelstory wert.

Dann gab das Nachrichtenmagazin seiner Ex-Mitarbeiterin Anushka Roshani ungeprüft die Möglichkeit, einen Rufmord zu begehen, ihren ehemaligen «Magazin»-Chef als üblen Mobber und sexistischen Quälgeist zu beschimpfen, sich über mangelhaften Schutz des Tamedia-Verlags zu beschweren. Die Rache einer Frau, die es selbst mit Mobbing und Denunziationen nicht geschafft hatte, ihren Chef vom Sessel zu lupfen, den sie selbst gerne erklettert hätte. Stattdessen wurde sie gefeuert, der «Spiegel» war nicht in der Lage, dieses offenkundige Motiv für eine Abrechnung zu durchschauen.

Diverse Prozesse laufen. Aktuell ist der deutsche Schauspieler Til Schweiger dran; wie immer gespeist aus anonymen Quellen wird ihm ein gröberes Alkoholproblem vorgeworfen. Und bereits wird ein Drei-Sterne-Koch auf die Rampe geschoben, der sich in seiner Küche ungebührlich benommen haben soll.

Das alles bedient das Narrativ von toxischer Männlichkeit, von Frauendiskriminierung im Nachhall der «#me too»-Bewegung, deren erste Exponentin später selbst sexueller Übergriffe beschuldigt wurde.

Nicht nur ältere «Spiegel»-Mitarbeiter sind sich einig: das wäre in früheren Zeiten, unter dem letzten beeindruckenden Chefredaktor Stefan Aust nicht möglich gewesen. Inzwischen gilt:

Wenn Würstchen an die Macht kommen, wird der Senf rationiert.

Statt beeindruckender Enthüllungen wie früher, Stichwort Neue Heimat, Stichwort Parteispenden, folgt nun eine billige Fertigmacher-Story ad personam nach der anderen. Aus Schweizer Sicht ist der Fall Roshani besonders peinlich. Denn spätestens seit dem akkurat recherchierten Buch von Roger Schawinski ist klar, was auch ZACKBUM als eines der ganz wenigen Organe schon von Anfang an kritisierte: Canonica ist hier nicht der Täter, sondern das Opfer, und die Medien machten sich allesamt zu willigen Helfershelfern einer Frau auf dem Rachetrip. Sie übernahmen ungeprüft ihre Behauptungen, schmückten sie sogar mit weiteren, erfundenen anonymen Aussagen aus, schwiegen dann verkniffen, als sich immer mehr offenkundige Widersprüchlichkeiten und gar grobe Erfindungen herausstellten.

Besonders peinlich dabei das Verhalten der «Magazin»-Redaktion, eine Versammlung von Gutmenschen, darunter der Lebensgefährte der Kampffeministin Franziska Schutzbach, die jahrelang mit höchster Sensibilität Missbrauch und alles, was gegen Gutmenschentum verstiess, aufs schärfste verurteilten. Aber in eigener Sache Zeugnis abzulegen, Zivilcourage zu beweisen, dazu Stellung zu nehmen, dass sie von Roshani als Zeugen für angeblich öffentliche Ausfälligkeiten von Canonica aufgeführt wurden – da verordneten sie sich feiges Schweigen, tiefer als die Omertà der Mafia.

Aber all das wird unterboten vom Niedergang des «Spiegel», der nicht einmal mehr schreibt, was sein soll. Sondern sogar, was gar nicht ist.

 

Spieglein an der Wand

Hat das Nachrichtenmagazin immer noch ein Kontrollproblem?

Man greift sich an den Kopf. Im August hatte der «Spiegel» seinen Lesern die erschütternde Geschichte erzählt, dass auf einer Insel im Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei ein 5-jähriges syrisches Flüchtlingsmädchen an einem Skorpionstich gestorben sei. Hätten die griechischen Behörden nicht jede Hilfe verweigert, hätte es gerettet werden können.

«Todesfalle EU-Grenze», so lautet der anklagende Titel. Nur: Wie die NZZ wiederholt berichtet, gibt es erhebliche Zweifel an dem Wahrheitsgehalt. Und diverse Indizien dafür. Also hat das Magazin diese und drei weitere Storys des Autors vom Netz genommen und will sie eingehend überprüfen.

Das bedeutet nicht, dass das Hamburger Magazin schon wieder mit einem Fall Relotius konfrontiert ist. Es bedeutet aber, dass der berühmte Faktencheck immer noch nicht wirklich und überall funktioniert. Sonst wären schnell Belege zur Hand gewesen, mit denen das Nachrichtenmagazin jegliche Zweifel an der Story hätte ausräumen können. Was es aber nicht kann.

So resümiert die NZZ die Folgen des Relotius-Skandals: «Nach der Enttarnung bemühte man sich bei «Spiegel» zwar, Strukturen zu schaffen, die einen notorischen Lügner wie Relotius künftig unmöglich machen sollten. Das weltanschauliche Umfeld, das ihn erst ermöglichte, blieb so aber unausgeleuchtet. Das könnte sich jetzt rächen.»

Das ist der Fakt

Unumstössliche Tatsache ist die Definition. Nur: was ist das?

Seit Mönch Ockham (um 1288 bis 1347) im finsteren Mittelalter die Hammererkenntnis hatte, dass das Bezeichnete und das Bezeichnende nicht das Gleiche ist, hat sich unser Verhältnis zur Realität etwas verkompliziert.

Nicht nur wurde damit die absolute Lufthoheit der Bibel erledigt (weswegen Ockham dann, wie man heute sagen würde, sehr low profile weiterschrieb, was seiner Gesundheit durchaus zuträglich war), sondern banale «ist doch so»-Feststellungen waren nicht mehr möglich.

Wilhelm von Ockham, wie er vielleicht aussah.

Umberto Eco baute darauf einen Weltbestseller: Der Name der Rose bleibt Rose immerdar, die Blüte selbst verwelkt. Im Zeitalter der neuen Unübersichtlichkeit, von Fake News und alternativen Wahrheiten und Rechthabern, die ständig falsch oder richtig mit böse oder gut verwechseln, ist eine neue Gattung entstanden.

Vom Dokumentalisten zum Faktenchecker

Trara, der «Faktenchecker». Früher hiess der Dokumentalist, und jedes Qualitätsorgan beschäftigte ihn. Seine Aufgabe war es, den schreibenden Journalisten zum Wahnsinn zu treiben. Ist Bern wirklich die Bundesstadt der Schweiz? Heisst die Firma, der Mensch tatsächlich so, und bitte Belege dafür? Bezieht sich die Angabe auf das amtliche Endergebnis der Wahlen, und wo findet sich das? Wenn das eine AG ist, steht das auch so im Handelsregister? Gibt es eine Landesgrenze zwischen Bolivien und Argentinien?

Mit solchen Fragen nervte der Dokumentalist ungemein, trug aber ebenfalls ungemein zur Qualität von Publiziertem bei. Fehlerfreie Rechtschreibung, faktische Korrektheit, das bot eine akzeptable Basis für glaubhafte Beurteilungen, Einordnungen, Analysen.

Längst vorbei, nur noch ganz wenige deutschsprachige Erzeugnisse leisten sich diesen Luxus. Und wie der «Spiegel» mit der grössten deutschen Dokumentarabteilung schmerzlich erfahren musste, schützt das dennoch nicht vor einem Fälscher wie Relotius, wenn der nur gewünschte Narrative bedient.

«Der Spiegel»: Sagen vielleicht, schreiben nicht.

Aber neu gibt es dafür den sogenannten Faktenchecker. Seine Tätigkeit hat es bereits in Wikipedia geschafft. Das Online-Lexikon ist selbst ein Beispiel für eine moderne Art von Faktencheck. Schwarmintelligenz heisst das Vorgehen. Schreibt einer was Falsches rein, wird das von anderen korrigiert. Ergibt sich daraus ein Battle, greifen Administratoren mit weitergehenden Befugnissen ein. Funktioniert im Allgemeinen ziemlich gut.

Angelsächsische Medien leisten sich weiterhin vielköpfige Dokumentar-Abteilungen und haben aus der «Korrektur» ein eigentliches Ressort gemacht, wo meist schonungslos eigene Fehler richtiggestellt werden.

In der Schweiz herrscht trüber Nebel beim Faktenchecken

Trüber sieht es in der deutschsprachigen Publizistik aus. Wie der vorangehende Artikel exemplifiziert, disqualifiziert sich in der Schweiz der Oberfaktenchecker des grössten Medienkonzerns selber. Denn er will nicht Fakten checken, sondern Rechthaberei im Gesinnungsjournalismus betreiben. Tödliche Mischung.

Die öffentlich-rechtlichen Medien, wie das in Deutschland heisst, verfügen über genügend Finanzen, um sich wie die «Tagesschau» eine Abteilung «Faktenfinder» zu halten. Auch einige Talkshows sind dazu übergegangen, Behauptungen ihrer Gäste im Nachhinein zu überprüfen, weil das in der Hitze des Wortgefechts oft nicht möglich ist. Darum bemüht sich auch die SRG, Tamedia beschäftigt auch ein paar Hanseln zu diesem Thema.

Dann gibt es unabhängige Plattformen wie bspw. «correctiv.de». Faktencheck ist allerdings keine Wissenschaft, Methodik, Validität, saubere Trennung von Fakt, Interpretation, Färbung, Auswahl, verbale Gewichtung usw. lässt sich niemals objektivieren.

Selbst die Aussage von unbestreitbaren statistischen Tatsachen wie «über 70 Prozent aller Betroffenen vom Strafvollzug sind in der Schweiz Ausländer, während es in Europa nur 16 Prozent sind» lässt Interpretationsspielraum, Platz für verschiedenartige Begründungen und Schlussfolgerungen.

Der Bereich des fraglos Faktischen ist nicht sehr gross

Aber Zahlenangaben im Speziellen oder die korrekte Wiedergabe von Aussagen lassen sich tatsächlich objektiv überprüfen. Behauptet jemand, in der Schweiz würde 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsschwelle leben, liesse sich das kinderleicht widerlegen.

Schwieriger wird es schon bei der Behauptung, die Reichen würden in der Schweiz zu wenig Steuern zahlen. Hier beginnt das Problem mit Definitionsfragen, was ist «reich», was heisst «zu wenig». Hört damit aber nicht auf, da bspw. die einkommensstärksten 5 Prozent in der Schweiz ein Viertel aller steuerbaren Einkommen bei der Bundessteuer deklarieren und für über zwei Drittel des Steueraufkommens zuständig sind.

Immer ein ungeliebter Hinweis bei der ewigen Umverteilungsdebatte oder dem Ansatz, dass die da oben doch denen dort unten viel mehr unter die Arme greifen müssten.

Faktencheck, das hört sich nur oberflächlich nach Ordnung, Aufklärung, Korrektur an.

Nach sachlicher Richtigstellung, Hinweis auf unbestreitbare Tatsachen. Eben als Korrektiv zu Fake News, alternative Wahrheiten oder reiner Demagogie. Denn so wenig wie es eine reine Wissenschaft gibt (ohne gesellschaftliche Implikationen), so wenig gibt es objektives und unbestreitbares Faktenchecken.

Oberhalb von einfachen Zahlenangaben, historischen Daten oder korrekte Verwendung von Funktionen von Menschen. Plus, aber dieses Thema wollen wir bei ZACKBUM weiträumig umfahren, das korrekte Schreiben von Namen.

Politische Modeerscheinungen sind häufig faktenfrei

Faktenchecken könnte helfen, Debatten zu versachlichen. Allerdings nur ausserhalb der Blasenbildung in sozialen Medien. Da ist Hopfen und Malz verloren. Aber in sogenannten Qualitätsmedien nicht. Umso bedauerlicher, wenn auch hier das Image des Faktenchecks mutwillig beschädigt wird.

Dass Schweizer Anhänger der US-Bewegung «Black live matter» völlig verpeilt sind, sich an geliehenem Leiden Bedeutung und Gewicht verschaffen wollen, ist ein Fakt. Ihr Kampf gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt gegen Schwarze zerschellt leider am Faktencheck, dass bei Tötungsdelikten im Allgemeinen gegen Schwarze über 90 Prozent der Täter – Schwarze sind. Und dass von den 56 Unbewaffneten, die von US-Polizisten 2018 erschossen wurden, «nur» 9 schwarzer Hautfarbe waren, dafür aber 17 Weisse und der Rest anderen Ethnien angehörte. Aber darum geht’s natürlich nicht.

Bei Newsorganen ist das ein Problem der mangelhaften Qualitätskontrolle und der Angst vor Sanktionen. Sonst hätte Tamedia sich schon längst von seinem Oberfaktenchecker, seinem Leiter des Interaktiv-Teams und seinem Politchef getrennt. Denn alle drei, wenn Fakten etwas zählen würden, sind untragbar, haben sich disqualifiziert, dem Image des Journalismus im Allgemeinen und von Tamedia im Speziellen schweren Schaden zugefügt.

Das ist der Fakt, und der ist belegbar, unbestreitbar, denn sie haben sich selbst disqualifiziert. Aber eben, in der besten aller Welten hätten Faktenfakes, Corona-Kreischereien oder antidemokratische Aussagen Konsequenzen.

Zackbum hat jetzt auch eine Kirche

Welche Lehren zog der «Spiegel» aus Relotius?

Mal genau genommen: Wie akkurat sind heute Faktenangaben?

Der «Spiegel» und die USA, das  ist ein schwieriges Thema. Das Blatt hatte bei seiner Geburt 1947 amerikanische Zeitschriften als Vorbild. Wie er ist, und wie er schreibt, lässt sich nur verstehen, wenn man auch die US-Pendants liest.

Und dann kam Relotius. Der «Spiegel» versuchte gar nicht, den Fälscher-Skandal zu verniedlichen. Eine unglaubliche Kette an missbrauchtem Vertrauen, schludriger Kontrolle und überheblicher Arroganz haben zum Entstehen von Relotius geführt, diesem angeblich so bezirzend schreibendem Reporter.

Auch Guido Mingels ist ein hervorragender Schreiber – aus dem luzernischen Dagmersellen. Nicht im entferntesten soll eine Analogie zwischen Relotius und Mingels geschaffen werden. Nur die Unvereinbarkeit zwischen Pointe und Fakten soll aufgezeigt werden.

Und zwar geht es um Mingels Text «Wenn die Ölmänner gehen». Im Zentrum steht das Städtchen Carlsbad in New Mexiko. Die Einwohner, so Mingels, leiden unter dem niedrigen Ölpreis. Firmen gehen Pleite, weil sich die Fracking-Methode unter einem gewissen Ölpreis nicht mehr lohnt. Es ist eine alte Geschichte. Amerikas Ölindustrie erlebt das immer wieder. Steigt der Preis wieder, gehen die Firmen wieder an den Start.

Kurzer Abschnitt mit Fragezeichen

In schöner Spiegeltradition wird die Geschichte an einem Individuum aufgezogen. Und zwar um Freeman. Ein wirklich kurzer Abschnitt soll nun zeigen, dass der «Spiegel» nicht die entscheidende Lehre aus dem Relotius-Skandal gezogen hat. Dass es nicht nur um die Person geht, sondern um einen Schreibstil, der nicht mehr zeitgemäss ist.

Hier ist unser Abschnitt:

«Nichts ist los hier», sagt Freeman, der nie in die Innenstadt geht. Bars gibt es wenige, dafür 58 Kirchen für die verbleibenden 30 000 Bewohner. Offenbar braucht man viel Beistand von oben, um es in dem Ort auszuhalten.

58 Kirchen. So viele soll es in Carlsbad geben. Die Information stammt vermutlich von der Website churchfinder.com, die 58 Kirchen auflistet. Seit heute sind es 59 (siehe Screenshot). Wir haben nämlich die Kirche Zackbum eingetragen. Bei unserer Methodisten-Kirche handelt es sich um ein geistliches Abklingbecken für Abtrünnige. Dass es wahrscheinlich noch andere Jux- oder nicht existierende Kirchen innerhalb der 58 Gotteshäusern Carlsbads gibt, ist nicht auszuschliessen. Wir hoffen, dass Mingels entweder alle 58 Kirchen akribisch abklapperte oder diese Mühe dem vielbeschworenen Doku-Team überreichte.

Die andere Frage ist drängender. Mingels schreibt, dass es in Carlsbad «wenige Bars» gäbe. Mit dem bösen Nebensatz: «Dafür 58 Kirchen …» wird dem Leser das Bild vermittelt, dass es mehr Kirchen als Bars in Carlsbad gäbe. Nur, stimmt das? Gibt es tatsächlich «wenige» Bars dort? Tripadvisor weist aktuell 70 Bars, Restaurants und Schnellimbissen in Carlsbad auf.

Und wenn man streng nach Anzahl Bars geht: In Dagmersellen gibt es drei Kirchen – und nur zwei Bars (die Härzbluet Bar und das Appaloosa Pub). Zum Glück gilt auch in Dagmersellen: Das Dorf befindet sich im Aufwärtstrend, trotz Kirchenübermacht und Bar-Misere.

Und wenn Mingels schreibt: «für die verbleibenden rund 30‘000 Bewohner» vermittelt er dem Leser das Bild eines trostlosen Städtchens, dass von den Einwohnern verlassen wird. Gemäss United States Census Bureau lebten in der Stadt allerdings seit der Zählung noch nie so viele Einwohner wie 2019 , nämlich exakt 29810.

Und wie sehr trifft die Zusage wohl zu: «sagt Freeman, der nie in die Innenstadt geht»? Wirklich, «nie»? Oder, vielleicht doch «selten», «fast nie», «manchmal»?

Diese Anhäufung von Unstimmigkeiten, aber auch Fehlern, vermiesen mir immer mehr die Lektüre meines Lieblingsmagazins, des «Spiegels». Die Pointe stimmt im Leben nur in Ausnahmefällen; deswegen sollte sie seltener gezogen werden.

Mingels nahm zu den Vorwürfen keine Stellung.

 

Blattkritik: Das «Spiegel»-Bild heute

Hat sich das Nachrichtenmagazin von Relotius erholt?

Das Objekt der Blattkritik ist die «Spiegel»-Ausgabe vom 18. Juli 2020. Die Titelstory knüpft an bessere Zeiten an: «Der Wirecard Thriller» nimmt sich des wohl grössten deutschen Wirtschaftsskandals an.

Der ehemalige Börsenliebling und als deutsches IT-Wunderkind gehandelte Konzern erwies sich als Betrugsmaschine, es fehlen rund 2 Milliarden Euro in der Bilanz. Seine Nummer zwei ist abgetaucht, und den Spuren dieses Jan Marsalek geht ein Team von 18 Redaktoren auf etwas mehr als neun Seiten nach. Launig illustriert und knackig betitelt mit «Auf der Jagd nach Dr. No».

Tatsächlich fördert der «Spiegel» hier Neues und Erstaunliches zu Tage. Es geht um Libyen, Russland, Spionagesoftware und wirklich knackige Anekdoten wie aus einem Bond-Film. Sauber chronologisch aufgearbeitet, hier spielt das Blatt seine Manpower und seine Fähigkeit, ein Recherchepuzzle süffig aufzubereiten, voll aus.

Rechthaber statt Recherche

Weniger glorios ist allerdings noch vor der Titelstory das erste Meinungsstück. Seit einiger Zeit leistet sich der «Spiegel» einen «Leitartikel». Hier erhebt der deutsche Oberlehrer sein hässliches Haupt: «Es reicht jetzt», kanzelt er Ungarns Premier und seine «illiberalen Freunde» ab. «Höchste Zeit», «Wesenskern würde beschädigt», hier wird mit dem Zeigefinger gefuchtelt, als würde irgend jemand auf die Ratschläge eines Journalisten hören.

Dem Zeitgeist geschuldet ist auch, dass jedes der klassischen Ressorts, zuerst «Deutschland», mit inzwischen fünf Seiten Kurzfutter eingeleitet wird. Ebenfalls den Mantel in den Wind hängt der «Spiegel» mit einem länglichen Stück über die Politik als Männerdomaine. Dann kommt etwas, was es seit Jahren nicht mehr gegeben hat, ein neues Ressort: Reporter.

Das beinhaltet, Überraschung, Reportagen. Offensichtlich die Wiedergutmachung für den Schaden, den der Fake-Reporter Claas Relotius anrichtete. Dessen Reportagen entsprachen zwar genau den Wünschen und der Gesinnung der Redaktion, hatten aber den kleinen Nachteil, dass sie über weite Strecken schlicht erfunden waren.

Das klassische «Spiegel»-Gespräch»

Im grossen Wirtschaftsstück «Masslose Macht», dem Aufmacher einer Serie über die zunehmende Dominanz des Staates in der Wirtschaft, merkt man deutlich, wie zwischen Kritik an staatlichen Monopolbetrieben und an «übertriebenen» Privatisierungen geeiert wird. Besonders hier zeigt sich, dass der «Spiegel» nun beileibe nicht in erster Linie ein Nachrichtenmagazin ist. Sondern ein Meinungsblatt. Es will nicht spiegeln, allenfalls einordnen und analysieren, es will nicht nur erklären, sondern richten.

Ein schönes Stück alter «Spiegel»-Kultur ist das Interview mit dem ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton. Der hatte schon mit einem Enthüllungsbuch mit Trump abgerechnet. Im Gespräch erweist sich die alte Kriegsgurgel als schlagfertiger und gebildeter Mensch. Wunderbar seine Sottise, als er gefragt wird, ob dem Präsidenten eine Rede Merkels über Multilateralismus auf die Nerven gegangen sei: «Trump weiss wahrscheinlich gar nicht, was Multilateralismus ist.»

Politisch korrekt ist dann aber das Interview mit den beiden Journalistinnen, die den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein wegen seinen sexuellen Übergriffen zu Fall brachten. Und nach 130 Seiten, auch das ist dem Zeitgeist geschuldet, ist dann Schluss.

€ 5.50 kostet das, in der Schweiz unverschämte Fr. 8.10. Früher war Montag obligatorischer «Spiegel»-Tag für sehr viele Deutsche, auch für mich. Seit 1995 ist die Auflage von über einer Million auf 700’000 zurückgegangen, und Erscheinungstag ist Freitag.

Im deutschen Sprachraum unerreicht

Von Fake Journalismus scheint sich das Magazin gut erholt zu haben, und wenn es wie bei dieser Titelgeschichte seinen journalistischen Muskel anspannt, ist es zumindest im deutschen Sprachraum unerreicht. Auch dem Zeitgeist geschuldet ist die immer grosszügigere Bebilderung mit auch ganzseitigen Fotos. Das hatte das Blatt früher nicht nötig, ein Gewinn ist’s nicht.

Überhaupt nicht erholt hat sich der «Spiegel» aber von seiner krachenden Fehleinschätzung, dass Donald Trump keine Chance habe, US-Präsident zu werden. Seither verfolgt ihn das Blatt hasserfüllt, beschimpft ihn als «Brandstifter» ruft «Das Ende der Welt» aus und tut so, als wäre es seine Aufgabe, den Präsidenten wegzuschreiben. Wie meist, wenn Journalismus Gesinnung zeigen will, ein Zeichen setzen, warnen, aufrufen, wird’s schal und unerträglich. Würde der «Spiegel» wieder vermehrt versuchen, dem Motto seines Gründers zu folgen, «sagen was ist» statt «sagen, wie’s sein sollte», dann wäre er wieder geniessbar.

Aber bei all seinen Schwächen, bei allen Zerrbildern, die er aus der Realität widerspiegelt: Natürlich bleibt er unverzichtbar für die politische Debatte im deutschen Sprachraum. Bis heute kann ihm kein anderes Blatt das Wasser reichen. Was ein Lob und auch ein Armutszeugnis ist.