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«Regelmässig habe ich bis 1 Million Leser»

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Hier folgt Teil 3 einer dreiteiligen Interview-Serie.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Das neuste Buch von Taibbi, erscheint demnächst.

Wer ist momentan Ihr Redaktor?

Ich habe keinen.

Niemand liest Ihre Texte vor der Publikation? 

Doch, ich habe Gegenleser, einen Assistenten für Lektorat und Korrektur, manchmal einen Dokumentaristen. Aber ich werde mehr Leute einstellen – Journalisten arbeiten besser mit Redaktoren. Mir selbst haben einige enorm geholfen.

Womit wir bei Substack sind, der neuen Blogging- und Newsletter-Plattform, auf der Sie Ihre Texte veröffentlichen, ohne Redaktor und Newsroom. Wie funktioniert das genau?

Es ist kein Geheimnis, dass ich einen dieser Substack-Pro-Deals angenommen habe.

Immerhin 250 000 Dollar pro Jahr, quasi als Vorschuss. 

Das war ein Fehler, de facto habe ich eine Menge Geld liegenlassen. Aber immerhin verdiene ich fast dreimal mehr bei Substack, als ich als Angestellter je verdient habe – auch im Vergleich zu meinem Festvertrag beim «Rolling Stone»-Magazin. Ich habe angefangen, Leute anzustellen, eine Vollzeitstelle, die den Laden schmeisst, Freelancer, eine Person für Video, Audio-Editing, und ich will einen Cartoonisten. Der Betrieb meines Substack-Mediums «TK» wird wohl aus fünf Leuten bestehen, dazu noch ein Podcast mit drei weiteren Angestellten. Auch möchte ich erwähnen, dass meine Substack-Leserschaft mindestens so gross ist wie bei klassischen Medien. Regelmässig habe ich 500 000 bis 1 Million Leser – das war etwa beim «Rolling Stone» eher die Ausnahme.

Wie viele von ihnen bezahlen?

Das ist die kostenlose Version. Bezahlen tun ein paar zehntausend – mehr sage ich nicht, sonst fangen sie alle an zu rechnen . . .

Glückwunsch!

Dass das Bestand hat, wage ich zu bezweifeln.

Wieso? Wo stösst das Substack-Modell an Grenzen? 

Es gibt in der gegenwärtigen Medienlandschaft raue Mengen an Menschen, die sich von traditionellen Medienorganisationen wie der «New York Times» oder dem TV-Sender CBS abwenden. Sie sind desillusioniert und landen auf der Suche nach News als Abonnenten auf Substack. Gleichfalls kann das nicht ewig so gehen. Letztlich wird eine Art institutioneller Antwort erfolgen, eine Innovation traditioneller Medien. Aber es gibt einen Sättigungspunkt, denn die Geldmenge, die Leute für Medien aufwenden, ist endlich. Momentan allerdings verlieren die grossen Organisationen immer noch Leser, eine Folge der Desillusionierung der letzten 18 Monate, die wir so in diesem Land lange nicht mehr gesehen haben.

Was wäre denn eine institutionelle Innovation der Medien, die den Trend umkehren könnte?

Wir sind ein kapitalistisches Land. Erkennt jemand ein Publikum, mit dem sich Geld verdienen lässt, raufen sich ein paar Investoren zusammen und kreieren das entsprechende Produkt. Ein News-Netzwerk, das sich als echte Alternative zu Fox News und MSNBC positioniert. Auch sind viele Regionalmedien eingegangen, wir haben Tausende Lokalzeitungen verloren, nicht aber ihr Publikum. Ein Konglomerat könnte wohl ein Netzwerk mit Lokaljournalisten aufbauen, wo man online und On-Demand Lokal-Storys beziehen kann. Momentan sind die lokalen und alternativen Medien verschwunden, und die übrig gebliebenen alten, traditionellen Medien des Landes werden immer schrecklicher. Jemand sollte ihnen einmal sagen, dass Trump weg vom Fenster ist. Aber sie machen immer weiter, wie ein Amputierter mit Phantomschmerzen, der nicht glauben kann, dass das Körperteil weg ist. Das schafft eine gewaltige Chance für jeden, der ein gutes Medienprodukt herausbringt.

*Matt Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

 

Hier geht’s zu Teil 1.

Hier geht’s zu Teil 2. 

 

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.

 

 

«Vertrauen. Darum geht es»

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Hier folgt Teil 2 einer dreiteiligen Interview-Serie.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Wie steht es mit der Wahrheit im Journalismus? 

Die Wahrheit begreift womöglich nur ein grossartiger Künstler, wenn er etwas Schönes und Zeitloses schafft. Aber die journalistische Wahrheit entwickelt sich ständig weiter. Es ist beinahe unmöglich, sie genau zu fassen.

Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen oder Propositionen – ist das nicht das Kerngeschäft von Journalisten?

Das ist Richtigkeit, Fehlerfreiheit, aber die Wahrheit ist etwas Grösseres.

Es ist korrekt zu sagen, dass Donald Trump in den letzten Wahlen Stimmengewinne in allen demografischen Gruppen ausser bei weissen Männern verzeichnete. Rein technisch stimmt das, aber heisst das, dass Trump der Held der Minoritäten ist? Wohl kaum, das wäre wohl eine gewagte, subjektive Ansicht (die ich nicht teile).

Wenn es Objektivität und Wahrheit im Journalismus nicht gebe, dann müssten alle subjektiven Standpunkte gleich viel wert und entsprechend vertreten sein, sagt eine neue «woke» Generation von Autoren. Wem das nicht passt, der wird gecancelt, also diffamiert und in den sozialen Netzwerken gelöscht. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein. In «The Boys on the Bus» beschrieb Timothy Crouse die Berichterstattung von Reportern während des Präsidentschaftswahlkampfes 1972. In einer Anekdote erzählt er, wie die klassischen Reporter ihren Gattinnen jeweils beim Dinner verrieten, wie es tagsüber im Wahlkampfbus wirklich gewesen war. Der Einzige, der das nicht zu tun brauchte, war Hunter Thompson – weil er in seinen Artikeln seine Beobachtungen bereits genau berichtet hatte. Seine Frau musste nur die Artikel lesen. Für mich zeigt das schön, wie man journalistische Konventionen über Bord wirft, einschliesslich echter Gefühle von Komik bis Zynismus, der Infragestellung eigener Vorurteile und Fehler, und einfach darüber berichtet, was man sieht. Schreibt man das, fühlen die Leser, wer ehrlich schreibt und fühlt, und sie entwickeln Vertrauen. Darum geht es in unserem Metier. Die neuere journalistische Schule, die Sie ansprechen und die sich gerade durchsetzt, schreibt zwar ebenfalls in der ersten Person und subjektiv – aber in anderer Absicht. Diese «modernen» Journalisten verfolgen ein politisches Ziel.

Sie sind käuflich, indem sie aus einer spezifischen Warte über ein Thema berichten, um aufzurütteln.

In meiner Arbeit dagegen versuche ich niemanden politisch zu überzeugen, sondern einfach, unterhaltsam und ehrlich zu sein.

Das ist auch eine Art subjektiver Aktivismus.

Gut, das ist jetzt knifflig. Der Unterschied ist wohl, dass ich versuche, neuen Ideen gegenüber so aufgeschlossen wie möglich zu sein. Viele junge Journalisten der «neuen Schule» im Journalismus haben dagegen kein Interesse mehr, den ganzen Tag am Telefon mit anderen Menschen zu reden. Lieber suchen sie Links im Internet, um ihre oft guten Argumente zu stützen. Zudem ist die neue Schule darauf erpicht, dass die Leute nach der Lektüre auch politisch korrekt handeln.

Ist diese neue Schule eine Jugenderscheinung einer rebellischeren, leidenschaftlicheren Generation? 

Es ist definitiv altersabhängig. Im amerikanischen Journalismus gibt es derzeit viele interne Krisen, Kämpfe zwischen Redaktoren und Reportern und zwischen Generationen. Die Revolte in der «New York Times» vom letzten Sommer, die nach der Publikation eines Gastbeitrags von Senator Tom Cotton entbrannte, ist ein Beispiel dafür. Stellvertretend für die Jüngeren hat etwa Wesley Lowery von der «Washington Post» die journalistische «Sicht aus dem Nirgends» stark kritisiert.

Er stösst sich am alten Standard von Objektivität, dem ausgewogenen, politisch neutralen Gesichtspunkt, und fordert stattdessen «moralische Klarheit».

Für die älteren Journalisten dagegen hat Objektivität auch eine Schutzfunktion. Ältere Reporter haben die Tendenz, ihre politischen Gefühle zu verbergen. Sie wollen keine Präsenz auf Social Media, weil sie ihrem Publikum nicht ihren politischen Standpunkt oder private Gedanken offenlegen wollen. Die neue Generation will keinen Schein von Objektivität vortäuschen, sondern einfach sein, wer sie ist und was sie denkt. Wer sich indes derart auf einen Standpunkt einschiesst, verliert die Fähigkeit, adäquat über wirklich überraschende Ereignisse zu berichten.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie die «Russiagate»-Geschichte.

Sie meinen die lange gehypte, aber nie richtig bewiesene direkte Einmischung der Russen in den US-Wahlkampf zugunsten Trumps.

Das war eine riesige Geschichte in Amerika! Ich war von Anfang an kritisch. Nicht weil ich Donald Trump mag, sondern ich sah einfach keinen Beleg. Ich war besorgt, dass die Reporter ihren eigenen Ski davonliefen. Letztlich verrannten sie sich, weil das eben passiert, wenn man es als gegeben ansieht, dass eine Story wahr ist – nur weil alle sagen, dass sie wahr sei.

Das passiert, wenn eine komplexe Standpunktdiversität die moralische Klarheit nicht mehr trübt? 

Genau.

Normalerweise ist die Person, die die Komplexität der Standpunkte wahrt und moralische Urteile zulässt, der Pförtner beziehungsweise der Redaktor. Warum ist das heute nicht mehr möglich?

Viele Redaktoren wurden in letzter Zeit entlassen, weil sie sich mit ihren Newsrooms überworfen hatten. Die «New York Times» hat einen ihrer besten Reporter, Donald McNeil, entlassen, wegen eines zwei Jahre alten, relativ milden Zwischenfalls. Der Chefredaktor Dean Baquet fand die Sache zuerst auch harmlos. Aber dann bekam die Belegschaft Wind davon und ging zu Baquet – worauf dieser McNeil mit den Worten entliess, er habe den Newsroom verloren. Die Newsrooms geben als Kollektiv derzeit den Ton an.

Ist das ein Problem? 

Wir hatten solche Aufstände in beinah jedem Mainstream-Medium. Das führt dazu, dass die meisten Reporter sich ducken und mitschwimmen. Schliesslich wollen sie ihren Job nicht verlieren. Also schreiben sie einfach, was alle anderen schreiben – dann gibts keine Probleme.

Wer ist momentan Ihr Redaktor?

Ich habe keinen.

Mit dieser Frage beginnt morgen der dritte und letzte Teil des Interviews. Hier geht’s zu Teil 1.

*Mat Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

 

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.

Aktivistischer Journalismus ist langweilig – aber macht süchtig

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Linken wie rechten Journalisten wirft er vor, nur noch dem eigenen Publikum zu schmeicheln.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Die Bitte von ZACKBUM.ch wurde erhört: Wir dürfen dieses Interview übernehmen. Heute Teil 1, morgen folgt Teil 2.

Herr Taibbi, im Jahr 1848 war Karl Marx Chefredaktor der «Neuen Rheinischen Zeitung», Friedrich Engels sein Stellvertreter – und zusammen wollten sie eine Revolution herbeischreiben. Finden Sie das problematisch?

Nein. Es gibt viele Journalismusmodelle. In den USA selber hatten wir verschiedene Phasen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Zeitungen offen politisch, einer Partei oder Gewerkschaft verbunden – das war normal. Der Begriff der Objektivität taucht erst im Zeitalter der Massenmedien auf, und dies nicht aus ethischen Gründen, sondern aus kommerziellem Kalkül.

Moment, journalistische Objektivität war kommerzieller Zweck?

Gewiss. Erinnern Sie sich an die weltbekannte sachliche Stimme der CBS-«Wochenschau» am Radio im Zweiten Weltkrieg? Das war Lowell Thomas. Thomas war ein hochtalentierter Schauspieler und wollte die Nachrichten dramatischer vortragen, die Leute aufwühlen, Kontroversen lostreten. Sponsoren aber verlangten eine trockene und monotone Moderation, die in den nächsten fünfzig Jahren zum Standard wurde. Die Moderation sollte niemanden erregen oder beleidigen, um möglichst viel Werbung an möglichst viele Menschen zu verkaufen.

Das hatte nichts mit Ethik zu tun. Es ging nur ums Geldverdienen.

Also verdient man heute wieder Geld mit parteiischer Berichterstattung wie Anfang des 20. Jahrhunderts.

Ja, wir greifen hierzulande definitiv auf eine frühere Version von Journalismus zurück. Wir hatten in Amerika nie eine oberste Medienaufsicht. Es gibt die Federal Communications Commission, die ein paar lockere Regeln vorgibt. Es gab die Fairness-Doktrin, ebenfalls eine lose Weisung, die einzig ab und an auch andere Gesichts- und Standpunkte verlangte. Heute dagegen haben wir ein quasistaatliches politisches Programm der parteiischen Moderation von Inhalten, das sicherstellen soll, dass Kontroversen, Verschwörungstheorien und Fake-News getilgt werden. In Friedenszeiten hatten wir so etwas noch nicht.

Aber es gibt doch journalistische Objektivität?

Ich glaube nicht wirklich an Objektivität im Journalismus, das ist allenfalls ein erstrebenswertes Ziel. Objektiv zu sein, heisst im US-Journalismus, eine Sache aus so vielen Winkeln wie möglich zu betrachten, die Standpunkte zu sortieren und der Leserschaft zu erzählen, ohne die eigenen Gefühle einfliessen zu lassen. Aber persönliche Gefühle kann man nicht eliminieren. Jede kritische Annahme reflektiert eine vorgefasste Meinung. Ein grosser oder kleiner Titel, das Bild auf der Titelseite oder auf Seite 15, ob ein Zitat prominenter gesetzt wird als ein anderes – all dies sind Entscheidungen, mit denen man Gewichte und Standpunkte setzt.

Also ist journalistische Objektivität ein Mythos?

Es ist wohl sinnvoll, danach zu streben. Aber der Ausdruck ist in letzter Zeit in Amerika in Ungnade gefallen. Die alte Formel, wonach man beide Seiten zu Wort kommen lassen soll, gilt heute als langweilig und mittlerweile selbst propagandistisch. Objektivität ist allenfalls noch wichtig als Absichtserklärung, im Sinne von journalistischer Fairness.

An die Stelle der Objektivität tritt heute journalistischer Aktivismus. Schon Hannah Arendt und James Baldwin arbeiteten nach diesem Prinzip, Rush Limbaugh und jüngere «woke» Journalisten ebenfalls. Was unterscheidet heute «guten» von «schlechtem» journalistischem Aktivismus?

Es gibt viele Arten von Journalismus, und sie alle haben ihren Wert. Mein Vater war ein klassischer News-Reporter, der vor dem brennenden Haus über den Hausbrand berichtete. Zeit seines Lebens hat er kein Editorial geschrieben. Ich habe das Metier ganz anders erlernt. Meine Helden waren Henry Louis Mencken, Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe. Dementsprechend glaube ich, dass subjektiver Journalismus, der naturgemäss streitbar argumentierend und aktivistisch ist, einen wichtigen Platz einnimmt.

Also haben Sie kein Problem mit journalistischem Aktivismus?

Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem.

Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stossrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda. Ein echter Journalist steht in der Verantwortung, unvoreingenommen für verschiedene Ansichten und Erklärungen offen zu bleiben. Leider gibt es hierzu in US-Medien eine immer stärkere Tendenz zu vorgefassten Meinungen, auf linker wie rechter Seite. Das Publikum weiss, was es erwartet: ausschliesslich Nonstop-Kritik an Demokraten oder exklusiv an Trump und den Republikanern. Wenn vorhersehbare, einfache Standpunkte statt komplizierter Wahrheiten verbreitet werden, ist das kein Journalismus mehr, sondern einfach langweilig.

Wenn das so langweilig ist, warum hat es dann Erfolg?

Weil es süchtig macht. Fox News und MSNBC verkaufen eine Konsumentenerfahrung von politischer Solidarität, mit der ein Überlegenheitsgefühl gegenüber einer anderen Gruppe bestätigt wird. Die klassische Fox-Formel beruht auf Bildern von unverantwortlichen Leuten, die Gesetze brechen und ausländische Terroristen sind. Dem Publikum wird das Gefühl gegeben, es sei die Verkörperung der aufrechten, gesetzestreuen, intelligenten und hart arbeitende Leute. MSNBC oder CNN machen genau das Gleiche. Sie verkaufen das Erlebnis, sich über QAnon-Idioten lustig zu machen, jeden Tag etwas anderes, über das man sich aufregen kann. Die Wut nach dem Klick wird zur Abhängigkeit. Nachrichtenlesen ist heutzutage eine Sucht, so gefährlich wie Zigaretten und gesättigte Fette. Man geniesst das Ritual, auf dem Mobiltelefon etwas Schreckliches zu lesen, Ärger und Empörung zu erleben und dann mit anderen zu teilen. Was die Medien machen, ist intellektuell uninteressant, aber höchst effizient.

Sollte Geschriebenes rezeptpflichtig werden oder zumindest einen Beipackzettel zu Risiken und Nebenwirkungen bekommen?

Das ist keine schlechte Frage. Wir haben in den USA ein hohes Bewusstsein darüber, was Verbraucher in ihre Mägen oder Lungen lassen, wie sicher ihr Auto ist. Weniger besessen sind sie von der Frage, was sie in ihre Hirne lassen. Intellektuelle Konsumgüter sind ebenfalls Produkte, weshalb das Bewusstsein darüber erweitert werden sollte. Schliesslich ist das kein öffentlicher Dienst, sondern ein Wirtschaftszweig. Die drei grössten Kabelnetzwerke machten vergangenes Jahr Gewinne über 2,85 Milliarden Dollar, und das in einer Art und Weise, die nicht gesund ist.

Wollen Sie Mediengesundheitsminister werden?

O nein. Aber ich bin in diesem Geschäft gross geworden, ich liebte und liebe diesen Beruf. Was ich in den letzten zwanzig Jahren beobachtet habe, beunruhigt mich sehr. Meine Texte sind ziemlich offen rhetorisch, meinungsbasiert, haben klare Standpunkte und eine Überzeugungsabsicht. Sie sollen zum Denken anregen. Aber viele Menschen lesen gewöhnliche Nachrichtenartikel, als ob es die blanke Wahrheit sei, ohne zu verstehen, dass da eine Person ein Argument aufbaut. Das finde ich bedenklich.

Wie steht es mit der Wahrheit im Journalismus?

Mit dieser Frage beginnt der 2. Teil des Interviews morgen.

*Matt Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.

Pflichtlektüre: kennen Sie diesen Mann?

Selten bringt’s ein aktiver Journalist so pfeilgerade auf den Punkt. Was? Eigentlich alles. Sein Name: Matt Taibbi.

In der Schweiz herrscht Verlautbarungs-, Gesinnungs- und Nabelschau-Journalismus. Über ein Gendersternchen, über den feinen Hauch einer möglichen Diskriminierung, über Sklavenhandel wird viel mehr Energie, Buchstaben und Hirnschmalz verschwendet, als auf die wirklich wichtigen Dinge des Journalismus.

Wie das gehen könnte, wie das geht, erklärt Matt Taibbi. Natürlich kein Schweizer, sondern US-Reporter. Er verdient inzwischen bei Substack eine Viertelmillion Dollar im Jahr. Was er als Fehler bezeichnet, weil er sich auf eine Fixzahlung einliess. Sonst wären es noch viel mehr.

Seine Helden waren Henry Louis Mencken, Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe. Wer ab Substack «hä?» sagt, sollte dringend an der Infofront aufrüsten. Wer intelligente Antworten auf intelligente Fragen zu den aktuellen Themen des Journalismus lesen will, sollte unbedingt «Aktivistischer Journalismus ist langweilig – aber er macht süchtig» lesen.

Zugegeben, da steht eine Bezahlschranke der NZZ davor. Aber da wir bei ZACKBUM bekanntlich nicht so schnell begeistert sind, hier aber Jubelschreie ausstossen, haben wir die NZZ angebettelt, dieses Interview übernehmen zu dürfen.

Wir sind so weit gegangen notfalls auf Wunsch auch kurz vor dem Eingang an der Falkenstrasse auf die Knie zu gehen. Wir hoffen auf huldvolle Gewährung, ohne Kniefall.

Damit wir hier mehr servieren können als dieses Appetithäppchen, die als Zitate durchgehen sollten:

 

«Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem. Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stossrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda.»

 

NZZ: Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen oder Propositionen – ist das nicht das Kerngeschäft von Journalisten?

 

  • «Das ist Richtigkeit, Fehlerfreiheit, aber die Wahrheit ist etwas Grösseres.»
  • «Die Wahrheit begreift womöglich nur ein grossartiger Künstler, wenn er etwas Schönes und Zeitloses schafft. Aber die journalistische Wahrheit entwickelt sich ständig weiter. Es ist beinahe unmöglich, sie genau zu fassen.»

Fortsetzung folgt – hoffentlich.