Schlagwortarchiv für: Kakophonie

Der Intellektuelle als Trottel

Immer, wenn man sie brauchen könnte, versagen sie.

Wikipedia, hilf: «Als Intellektueller wird ein Mensch bezeichnet, der wissenschaftlich, künstlerisch, philosophisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätig ist, dort ausgewiesene Kompetenzen erworben hat und in öffentlichen Auseinandersetzungen kritisch oder affirmativ Position bezieht

Oder anders definiert: ein Intellektueller ist jemand, der sich anmasst, aufgrund überlegener Fähigkeiten oder Kenntnisse seinen Senf zu so ziemlich allem zu geben. Zu beurteilen, zu urteilen. Ratschläge zu erteilen, zu fordern, zu verurteilen, zu mahnen, zu benoten.

Der durchschnittliche Intellektuelle hat eine Meinung zu allem. Probleme der Inuit, Stammesriten auf Papua-Neuguinea, die Gefahr eines Ausbruchs des Vesuvs, die richtige Bekämpfung einer Pandemie, die ideale Gesellschaftsordnung, die Absichten Trumps, der Nahostkonflikt, die Kamarilla um Putin, die richtige Zubereitung eines Rühreis, der respektvolle Umgang der Geschlechter miteinander: wo ein Thema ist, ist mindestens ein Intellektueller nicht weit.

Viele Intellektuelle sind sprunghaft. Gestern kümmerten sie sich noch um Integrationsprobleme von Menschen mit Migrationshintergrund. Heute ist es KI. Morgen wird es wieder der Klimawandel sein. Egal was, das Thema muss nur im Gespräch sein und sich eines gewissen öffentlichen Interesses erfreuen.

Manche Intellektuelle verbeissen sich in ein Thema. Sie spüren disruptiven Entwicklungen nach oder hängen der postdekonstruktivistischen Analyse an. Manche verschreiben sich dabei den Gedankengängen von Menschen, denen sie grössere Denkapparate zubilligen. Dann sind sie Anhänger. Anhänger des herrschaftsfreien Diskurses von Habermas. Oder der luhmannschen Systemtheorie. Oder von Derrida, Foucault oder gar von André Glucksmann. Manche haben’s lieber klassischer. Dann versuchen sie, so wie Platon, Aristoteles, Kant, Hegel oder Marx zu denken. Beziehungsweise deren Denken zu verstehen.

Intellektuelle gibt es in jeder mögliche Form und Grösse. Es gibt Flachdenker wie Barbara Bleisch oder Daniel Binswanger. Die sind besonders nervig. Es gibt Schwurbeldenker wie Peter Sloterdijk, die über das Kochen eines Eis ein philosophisches Seminar abhalten können. Es gibt sehr wenige Intellektuelle, die tatsächlich geistig bereichernd sind. Die meisten sind schon tot, viele schon sehr lange.

Aber einiges ist (fast) allen Intellektuellen gemeinsam: sie nehmen sich wichtig. Sie nehmen sich furchtbar wichtig. Und sie nehmen furchtbar schnell übel, wenn man sie nicht wichtig nimmt. Zudem sind sie völlig verantwortungslos. Sie erteilen Ratschläge und geben vor, wie die Gesellschaft zu sein habe. Endet das in einem Desaster und Blutbad, wie häufig nach von Intellektuellen vorbereiteten Revolutionen, dann haben sie es nicht so gemeint. Wurden missverstanden. Hat man ihre wahren Ideen und Absichten halt falsch umgesetzt.

Aber einer Erkenntnis verweigern sich (fast) alle Intellektuellen: ihre Tätigkeit ist im besten Fall überflüssig, im schlechtesten Fall schädlich. Ihr Hauptzweck besteht in reiner Selbstbefriedigung, ist l’art pour l’art. Grosse Kriegstänze um ganz kleine Lagerfeuer werden aufgeführt, ein Intellektueller bestätigt dem anderen seine Bedeutung, indem er ihn kritisiert. Dabei ist sowohl das Kritisierte wie die Kritik meistens völlig unerheblich für den Gang der Dinge.

Gäbe es mal Erklärungsbedarf, und wann gibt es den nicht, stimmen sie eine wilde Kakophonie von sich diametral widersprechenden Meinungen, Analysen, Lagebeurteilungen und Ratschlägen zur Besserung an. Mangels religiöser Letztbegründung in aufgeklärten Zivilisationen berufen sie sich auf nicht genauer definierte Versatzstücke von Ethik, Moral, Anstand, behaupten, das Gute und Richtige vom Bösen und Falschen unterscheiden zu können. Sie errichten kühne Gebirge aus Worten, Sätzen, Essays, Analysen, Büchern, Kompendien.

Wenn’s blöd läuft, legen gesellschaftliche Umstände wie Wirtschaftskrisen, Hungersnöte oder allgemeine Unzufriedenheit mit dem herrschenden System eine Zündschnur an diese leicht brennbaren Gebirge, und wumms. Das Ganze fliegt in die Luft, hinterlässt einen tiefen Krater, unterbricht den Gang der Dinge, bis es anschliessend wie zuvor weitergeht. Die Bewohner der ehemaligen UdSSR können ein Liedchen davon singen.

Oder aber, das Gebirge wird immer höher und breiter und unübersichtlicher. Um dann wie der Turmbau zu Babel aufgegeben zu werden; das vorher furchtbar wichtige Thema schrumpft zur Bedeutungslosigkeit, die Intellektuellen verlieren die Lust daran und ziehen weiter. Zum nächsten Turmbau zu Babel.

Intellektuelle brauchen einander. Sonst sind sie eigentlich völlig unbrauchbar.

Der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht

Der Bundesrat beschliesst eine Lockerung der drakonischen Massnahmen. Netz und Medien machen sich ganz locker.

Natürlich hat das Internet viele gute Eigenschaften. Dass hier jeder seine Meinung in die Welt hinausposaunen kann, gehört nicht dazu.

Der «Blick» hält sein Ohr ganz nahe ans Netz, und was hört er? «So viele Tote und Invalide hat noch kein Terrorist oder Attentäter je verursacht wie der Bundesrat mit seinem heutigen Entscheid.» Oder dieser Wutbürger ist auch toll: «Liebe Bundesrepublik Deutschland könnt ihr uns Schweizer bitte annektieren?»

Es ist zu befürchten, dass beide Pass und Stimmrecht besitzen. Natürlich wird auch die Stimme der Jugend gesucht und gefunden. Zum Beispiel Sean, 18, Schüler in Zürich: «Wirklich vernünftig sind die Lockerungen nicht.»

Auch der SDA bleibt nichts anderes übrig, als einen Breitband-Satz einzusetzen: «Von «zu langsam» über «vernünftig» bis «unverantwortlich» reichen die Reaktionen der grossen Parteien auf die Entscheide des Bundesrates vom Mittwoch. Alle fordern jedoch mehr Tempo beim Impfen.»

Der Oberchefredaktor von Tamedia verkündet in allen Kopfblättern: «Endlich hat der Bundesrat gehandelt. Jetzt müssen nur noch die bestellten Impfdosen eintreffen, damit endlich auch in der Schweiz die breite Bevölkerung geimpft werden kann.»

Wo bleiben Einordnung, Analyse und kompetente Meinung?

Die smd-Suche unter dem Stichwort «Lockerung» am Donnerstag ergibt ganze 350 Treffer, und das schon am Morgen. Gibt die Vierte Gewalt auch Orientierung, Einordnung, Analyse, eben all das, was der zahlende Leser für sein Geld erwartet?

Nun, es gibt ja nicht nur die Meinungen in den Medien; sie halten sich auch für so wichtig, dass es Pressespiegel gibt, die eine Meldung über die Meldungen machen.

Das ist aber in diesem Fall gar nicht so einfach; cash.ch kann es nur so formulieren: «Die überraschend offensiven Schritte des Bundesrates zur Lockerung einzelner Corona-Massnahmen werden von den Kommentatoren in den Schweizer Medien mit Erstaunen und Erleichterung, aber auch mit Sorge zur Kenntnis genommen.»

Damit wissen wir nun, woran wir sind. Immerhin, einige haben’s gemerkt, was der einzig interessante Punkt bei diesen Lockerungsübungen ist. Aber nur ganz wenige haben’s auch verstanden. In Deutschland wird, bei ähnlichen «Kennzahlen», die Schraube angezogen, in der Schweiz gelockert. Von den «fünf Kriterien» für eine Lockerung seien hierzulande ganze vier nicht erfüllt.

Trotz Kennzahlen, Indizes, Inzidenz: es wird gelockert

Dennoch wird gelockert. Das ist die gute Nachricht. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als: diese Kennzahlen sind Pipifax. Schon lange aus allen möglichen Blickwinkeln kritisiert und bezweifelt, scheint nun auch der Bundesrat zur Überzeugung gekommen zu sein, dass man sie genauso wenig wie die ewigen Unkenrufe der «Fachleute» zur Richtschnur des Handelns machen sollte.

Nachdem Marcel Salathé seine Schäfchen ins Trockene, bzw. sich selbst in eine angenehme neue Position gewarnt und geunkt hat, wollen wir nur kurz Christian Althaus zitieren. Genau, von dem hat man schon länger nichts mehr gehört, und er ist weiterhin in seiner alten Stellung in Bern anzutreffen. Also hat er Mitteilungsbedarf:

«Ich habe grosse Bedenken, wie sich die Epidemie in der Schweiz nun entwickeln wird.» Diese Bedenken sollten wir ernst nehmen, denn das ist schliesslich ein Fachmann. Gerne hätten wir gewusst, woraus sie denn konkret bestehen.

«Aufpassen, den Sommer nicht zu verspielen», murmelt Althaus noch.

Die Eidgenossen seien erst zu 20 bis 40 Prozent immun gegen Covid-19, das sei viel zu wenig. Also haben wir die Karte «Sommer» auf den Spieltisch gelegt, und weg ist sie, verloren.

Aber auch hier gibt es eine gute Nachricht: auf solches Geschwätz wird immer weniger gehört, denn da ist die Immunisierung viel weiter fortgeschritten. Obwohl Althaus immer noch, trotz all seinen krachenden Fehlprognosen, als «Corona-Experte und Epidemiologe an der Uni Bern» apostrophiert wird. Die Kurzfassung wäre: rausgeschmissenes Geld. Es wird auch noch erwähnt, dass er bis Januar der «Covid Task Force» to the Bundesrat angehört habe. Dieses Ehrenamt gab er dann auf, weil das wenigstens Schlagzeilen brachte und ihm dort andere Epidemiologen zu sehr in der Sonne standen.

Corona: Nächste allgemeine Verunsicherung

Die Corona-Einheitsbrei-Berichterstattung löst sich in Einzelteile auf. Nach Mainstream nun allgemeine Kakophonie.

Die Zeiten, als die Leitmedien der wenigen verbleibenden Konzerne stramm auf Linie der Task Force, des Bundesrats und im Zweifelsfall für Verschärfungen, Restriktionen und gegen verantwortungslose Fahrlässigkeit waren, sind vorbei.

Mit einem gewissen Restgespür für die Stimmung in der Bevölkerung und unter den Lesern werden viele fuchtelnde Zeigefinger eingefahren, machen sich Laienjournalisten nicht mehr mit drakonischen Forderungen aus dem wohlbeheizten Homeoffice lächerlich.

Tamedia ist mild und friedlich gestimmt

So meldet Tamedia zur Corona-Lage in Genf: «Mutierte Viren dominieren – doch die dritte Welle bleibt aus». Milde gestimmt titelt der Konzern zudem «Berset deutet Lockerung von Corona-Massnahmen an». Das hätte noch vor wenigen Wochen einen scharfen Kommentar abgesetzt, in dem die Worte unverantwortlich, Wackelpudding und «jetzt muss dringend» eine wichtige Rolle gespielt hätten.

Gemischte News hält der «Blick» parat. Aber neben der Entdeckung eines furchtbar ansteckenden Virus-Mutanten im Amazonasgebiet, einem Schockerfoto von schwärtlichen Fingern, die wegen Corona amputiert werden müssen, ist die Aufmacherstory: «Deutscher Virologe widerspricht Task Force». Auch das hätte noch vor Kurzem einen hämischen Kommentar und einen strengen Verweis abgesetzt. Jetzt wird ein ehrfürchtiges Interview mit dem Fachmann geführt.

Gemischte News, aber ein deutscher (!) Epidemiologe darf der Task Force Saures geben.

Auch «blue-news» nimmt Bersets Andeutung in den Ticker, erschreckt aber mit der Frage, ob in Zukunft ein doppelter Mund-Nasen-Schutz nötig sei. Als Zahlenquelle wird hier weiterhin die US-Privatuni Johns Hopkins verwendet; auch so ein Skandal, an den sich alle gewöhnt haben.

Milchzähne, Krokodilkot, Sex und Angriff der Kängurus

Und was hat uns das Katzenvideo-Portal «watson» aus seinem Millionengrab heraus zu sagen? Keine solchen Vorurteile, in seiner Serie «Lustige Tierbilder Episode II» kommt nun «Angriff der Kängurus». Ob da jemand die Anspielung auf «Star Wars» merkt? Nun, es wird mit folgendem Müll bespasst: «Let’s talk  about real good Sex, Baby» von «Emma Amour», «Milchzähne am Anus, Krokodilkot und Niesen: So verhütete man früher», «Mann baut E-Gitarre aus dem Skelett seines toten Onkels» und schliesslich noch ein Titel, der wohl 99 Prozent aller «watson»-Leser ratlos macht: «Palindrom-Tag: Warum ist der 12. 02. 2021 so besonders?»

Kleiner Knaller von «20 Minuten», Knallfrosch von der NZZ

Corona? Ach ja, wen interessiert das schon bei «watson». Das gewinnbringende Gratisblatt «20Minuten» kann dagegen mit einem kleinen Knaller aufwarten, der den Bezahlmedien gut angestanden wäre: «Russland bot der Schweiz Impfstoff Sputnik an – BAG reagierte nie». Sagt immerhin der russische Botschafter in Bern.

Die NZZ widmet sich, so gehört sich das, den tieferen Fragen: «Der Mensch kommt zu kurz – wie die Corona-Isolation die Kultur unseres Zusammenlebens schädigt». Gleich zwei Geistesriesen braucht es, um altbekannten Flachsinn zu verzapfen: «Der persönliche Kontakt kommt zu kurz», «das Unmittelbare geht verloren». Vor allem in der Kultur, aber natürlich auch in der Politik hinter Plastikscheiben. Gibt es wenigstens Rettung, Lösungen? Aber sicher, die Pandemie nicht einfach aussitzen, «sondern aktiv gestalten», fordert die Kunsthaus-Direktorin Ines Goldbach. Nur sagt sie nicht, wie das gegen im Artikel konstatierte Depressionen, Einsamkeit, Existenzangst oder gar die Zunahme häuslicher Gewalt helfen soll.

Kleiner Tipp: manchmal ist aussitzen viel besser als schreiben. Aber, das rettet Ruf und Ehre, «Wer sagt, Schuldenmachen sei heute gratis, gibt zu viel Geld am falschen Ort aus. Die Staaten steuern dadurch immer tiefer ins Schlamassel.» Die NZZ gibt Reiner Eichenberger und David Stadelmann Gelegenheit für einen intelligenten Gastkommentar.

CH Media und «Republik»: Alarmsirene und Sendepause

Welchen Beitrag leistet schliesslich CH Media zur allgemeinen Verunsicherung? «Ansteckungen in der Schule: Zahl der Infektionen hat sich im Januar im Aargau mehr als verdoppelt». Berichtet der Konzern aus dem Stammland seiner Zentralredaktion. Allerdings: Es handelt sich seit Anfang Januar um eine Steigerung von 149 auf 324 – in fünf Wochen. Zudem sagt bekanntlich ein positiver Test nichts über eine mögliche Erkrankung aus.

Wollen wir es zum Schluss wagen, was sagt uns die «Republik» heute zu Corona? Heiliger Strohsack: nichts. Null. Keinen einzigen Buchstaben gönnt sie uns zu diesem brennenden Thema. Wie sollen wir so orientierungslos ins Wochenende stolpern?