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Tschäksches? Faktencheck!

Hier zeigen Qualitätsmedien, was sie können. Nämlich nicht viel.

Was früher stattfand, bevor ein Artikel das Licht der Welt erblickte, wird im Elends- und Sparjournalismus zu einer eigenen Gattung hochgestemmt: der Faktencheck.

«Faktencheck der Aussagen der Budget-Gegner», trompetet die «Berner Zeitung». Einen «Faktencheck zu den US-Wahlen» bietet SDA an. «Trumps 7 Argumente gegen die Briefwahl im Faktencheck», freut sich «watson» über ein neues Listical. Die NZZ online unterzieht «drei Aussagen zur Zürcher Wohnpolitik» einem Faktencheck.

Wir checken die Corona-Sterblichkeit

Da darf natürlich der Corona-Faktencheck nicht fehlen. Tamedias Newsnet nimmt sich einer brisanten Frage an: «Beträgt die Corona-Sterblichkeit tatsächlich nur 0,27 Prozent?» Auf diese Zahl ist der renommierte Statistiker und Epidemiologe John Ioannidis gekommen. Dahinter steht die nicht weniger renommierte Stanford-Universität, deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ergebnisse in ihr Bulletin aufgenommen und damit höhere Weihen erteilt.

Es handelt sich um eine sogenannte Metastudie, in der Ioannidis weltweit Statistiken kompiliert und ausgewertet hat. Nach Altersgruppen unterteilt beträgt die sogenannte Infection Fatality Rate (IFR), also die Sterberate bei infizierten Unter-70-Jährigen lediglich 0,05 Prozent. Die WHO selbst ging bislang von einer IFR von insgesamt 0,6 Prozent aus.

Das würde ausgedeutscht bedeuten, dass von 2’000 Infizierten unter 70 lediglich einer stirbt. Nun könnte der faktengecheckte Leser sagen, dass es schön ist, dass man das nun weiss, aber: na und? Damit würde der Leser allerdings zeigen, dass er den Ernst der Lage immer noch nicht verstanden hat.

Sterberate von 0,05 oder von 5 Prozent?

Schliesslich rüstet sich auch die Schweiz für den nächsten Lockdown, mit dem viele KMU, aber auch Airlines und die gesamte Reisebranche endgültig in den Bankrott getrieben werden. Nach der Devise: Wenn nach dem ersten Lockdown noch was steht, dann putzen wir das auch noch weg.

Wenn aber das COVID-19-Virus eine Sterblichkeit verursacht, die im Rahmen einer völlig normalen Grippewelle liegt und die Schweiz auch nicht jedes Jahr die Trottoirs deswegen hochklappt, wieso dann diesmal? Zum Beispiel deswegen, weil das Bundesamt für Gesundheit (BAG), das auch acht Monate nach dem Ausbruch der Pandemie nicht in der Lage ist, aktuelle und vollständige Zahlen über die Auswirkungen des Virus zu liefern, bei einer Zahl ganz sicher ist: 5 Prozent. «Die Sterblichkeit beim neuen Coronavirus in der Schweiz liegt aktuell bei 5 Prozent», schreibt das BAG, und dann muss das ja stimmen.

Wenn das aber stimmt, dann lägen die WHO mit 0,6 Prozent oder die Stanford-Uni mit 0,27 Prozent um eine Zehnerpotenz daneben. Das ist eine Differenz, um es an einem anderen Beispiel zu illustrieren, wie wenn die Zahl der Arbeitslosen bei 5 Prozent oder bei 0,5 Prozent läge. Oder bei 0,05. Dramatischer Unterschied.

Woher kommen die Unterschiede?

Ein solcher Unterschied lässt sich nicht mit verschiedenen Messmethoden oder wissenschaftlichem Blabla erklären. Der Unterschied ist aber entscheidend, denn wenn es eine dermassen hohe Sterblichkeit im Vergleich zu einer normalen Grippe gibt, dann sind energische Schutzmassnahmen verständlich.

Ist aber die IFR tatsächlich so niedrig wie bei einer Grippewelle, wobei wie immer Menschen über 70 Jahre signifikant stärker betroffen sind, weil im Alter Vorerkrankungen und ein  allgemein geschwächtes Immunsystem dem Virus sein schädliches Tun leichter machen, dann drängt sich eine ebenfalls lebenswichtige Frage auf.

Was steht dann dafür, dass bereits mit dem ersten Lockdown ein wirtschaftlicher Schaden von rund 100 Milliarden Franken angerichtet wurde? Und was genau ist der Grund, die gleiche Abrissbirne nochmals über der Schweiz zu schwenken? Denn einer von den Dreien muss sich gewaltig irren. Ioannidis von Stanford, die WHO – oder das BAG.

Was kümmert’s die Faktenchecker von Tamedia

Nun, da wird die geballte Fachkompetenz des Newsnet sicher Abhilfe schaffen, die Dinge klarstellen. Könnte man meinen. Ist aber nicht so. Der «Faktencheck» zitiert andere Wissenschaftler, die überraschungsfrei die Resultate dieser Studie kritisieren; die Zahlen seien zu tief. Einer dieser Kritiker kam bei eigenen Untersuchungen auf eine IFR von – 0,7 Prozent.

Die US-Gesundheitsbehörde errechnet 0,65 Prozent Sterblichkeit bei Infizierten, das Londoner Imperial College, das schon mit gewaltigen Prognosen von Hunderttausenden von Toten falsch lag, berechnet 0,66 Prozent.

Also kommt der «Faktencheck» zum Ergebnis: «Der Schluss liegt nahe, dass John Ioannidis und sein Team die Corona-Sterblichkeit zu tief bewerten.» Der Grossteil der IFR-Studien sei auf einen Wert von über 0,5 gekommen.

Amtlich: Die Sterblichkeit liegt nicht bei 5 Prozent

Das mag ja durchaus so sein, nur: Wieso kümmert sich der «Faktencheck» nicht um die unsere Corona-Politik bestimmende Zahl, nämlich die des BAG? Könnte es sein, dass Tamedia, nach einer kurzen Phase der etwas kritischeren Berichterstattung, wieder in einem obrigkeitshörigen Bückling erstarrt, Durchgreifen und drakonische Massnahmen fordert, diese irrlichternde Zahl des BAG lieber nicht erwähnen möchte?

Denn ob die Sterblichkeit bei 0,27 oder bei 0,6 oder bei 0,7 liegt: Es ist wissenschaftlich amtlich, dass sie ganz bestimmt nicht bei 5 liegt. Nun ist aber diese hohe Sterblichkeit, zusammen mit der völlig unerheblichen Zahl der täglichen Neuinfektionen, die Entscheidungsgrundlage für einen möglichen zweiten Lockdown in der Schweiz.

Fazit: Tamedia kann auch keinen Faktencheck. Weder vor noch während der Publikation eines Artikels. Diese Karrikatur eines Faktenchecks noch hinter einer Bezahlschranke zu verstauen, das zeugt wirklich von Dreistigkeit.