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Resozialisierung mal anders

Normalerweise ist heute der Vorwurf «sexuelle Belästigung» tödlich.

Wie steht es aber mit Sex mit Kindern? 2003 wurde ein Urteil rechtskräftig, mit dem ein Journalist wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern schuldig gesprochen wurde. Dafür kassierte er eine bedingte Gefängnisstrafe von 14 Monaten.

Danach war es natürlich mit seiner Karriere in der Schweiz vorbei, er wechselte nach Deutschland. Um einige Jahre später als Redaktor in der Schweiz wieder aufzuerstehen.

Selbstverständlich ist das ein löbliches Beispiel von gelungener Resozialisierung. Genau das ist auch der Sinn unserer Rechtsprechung; eine Strafe soll nicht einfach Bestrafung sein, sondern einen Gestrauchelten wenn möglich wieder auf den rechten Weg zurückführen.

Daher soll das hier keinesfalls eine nachträgliche Nachverurteilung sein. Nur: der Unterschied zu den meisten aktuellen «#metoo»-Fällen liegt auf der Hand. Während es in diesen Fällen identifizierbare Opfer gab, eine ordentliche Gerichtsverhandlung, die mit einem rechtskräftigen Urteil endete, tagt neuerdings der Volksgerichtshof, beziehungsweise die Versammlung von Scharfrichtern in den asozialen Medien und den Hetzpostillen der angeblichen korrekten Lebensart. Die lautstark über solche angeblichen Sexmonster herziehen – bis sich deren Unschuld herausstellt. Oder zumindest sich die oft längst verjährten, anonymen Beschuldigungen als substanzlos, nicht belegbar, gar erfunden erweisen.

Ein besonders abschreckendes Beispiel ist der grossartige Schauspieler Kevin Spacey. Viele Jahre zurückliegender Übergriffe beschuldigt, wie immer baute sich eine Meute von Mitläufern auf, die für Geld oder Ruhm oder beides behaupteten, auch Opfer von Spacey zu sein. Die Meute japste, er verlor alles. Ansehen, Einkommen, Karriere. Dann wurde er auf ganzer Linie freigesprochen. Selbst daran wurde noch herumgemäkelt – und seither herrscht Ruhe. Entschuldigung, Einsehen, Selbstreflexion? Null.

So ging es beim Fall des ehemaligen «Magazin»-Chefredaktors. Beim Fall des ehemaligen Oberchefredaktors der «Blick»-Gruppe, dem nicht mal explizit sexuelle Übergriffe, sondern schwammig eine «Bevorzugung» einer gewissen Gruppe von Redaktoren vorgeworfen wurde.

Und nun der jüngste Fall eines Journalisten, der ausgerechnet vom ach so korrekten Zwangsgebührenfunk SRF ans Kreuz genagelt wurde. Aufgrund von anonymen, nicht zeitlich verorteten Beschuldigungen, bei denen keinerlei Anzeigen erstattet wurden. Dennoch beschreibt SRF die Tätigkeit des Journalisten so entlarvend, dass sie auch gleich seinen Namen hätten hinschreiben können. Statt den Tanz aufzuführen, dass man weder die mutmassliche Opfer, noch den «es gilt die Unschuldsvermutung» mutmasslichen Täter namentlich aufführen wolle.

Bei allem Verständnis für Schamgefühl oder gar Angst: wer zur Vernichtung einer Karriere, einer gesellschaftlichen Existenz ansetzt, sollte vielleicht doch die Courage haben, dazu mit Namen hinzustehen. Selbst Trittbrettfahrerinnen, selbst die rachsüchtige, gefeuerte «Magazin»-Redaktorin bringen diesen Mut auf. Er ist insbesondere unabdingbar, wenn es sich um Vorwürfe handelt, die längst verjährt sind und daher nicht mehr ins Recht gefasst werden können, selbst wenn sie sich als wahr herausstellen.

Denn das wäre der Sinn der so missbrauchten Unschuldsvermutung. Sie setzt nämlich schon einmal voraus, dass es Untersuchungshandlungen einer Strafbehörde gibt. Ohne die dürfte es nichtmal diese Vermutung geben. Dann ist der Mensch nämlich schlichtweg unschuldig wie jeder andere auch, der nicht rechtskräftig verurteilt wurde. Und selbst dann, nach einer Verurteilung, wird die Resozialisierung höher gewichtet als eine anhaltende Stigmatisierung als Straftäter. Wie im Fall des eingangs genannten Redaktors.

So sollte es sein. So ist es nicht. Sexuelle Übergriffe jeglicher Art sind eine Schweinerei. Finden sie am Arbeitsplatz und unter Ausnützung einer Hierarchie statt, sind sie eine doppelte Schweinerei. Wird – fast immer von Frauen – ein sexueller Übergriff behauptet, aus welchen Motiven auch immer, der oftmals schon längst verjährt wäre und der sich oftmals nicht erhärten lässt, ist das ebenfalls eine doppelte Schweinerei. Jedes einzelne Mal ein Hohn für alle wirklichen Opfer. Jedes Mal ein ungesühntes Verbrechen, weil es die Vernichtung einer Karriere, einer sozialen Existenz bedeutet.

Darüber sollten all die Japser nachdenken, die sofort herbeieilen, um mit erhobenem Zeigefinger und moralisch geschwellter Brust über einen neuerliche, widerlichen Sexismus-Skandal zu berichten, wobei natürlich die Unschuldsvermutung gelte, logo.

Canonica streckt die Waffen

Moderner Schmierenjournalismus siegt.

Die Methode ist bis zum Erbrechen bekannt. Eine Frau greift tief in die Vergangenheit und stellt eine Reihe von unbewiesenen, unbelegten, rufschädigenden Behauptungen über – wenn überhaupt – längst verjährte angebliche Übergriffe auf.

Sie sei verbal sexuell belästigt, erniedrigt, beleidigt, gemobbt worden. Diese angeblich unerträglichen Zustände habe sie zwar viele Jahre ausgehalten, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber nun reiche es; so wie die Opfer von Weinstein ihre Stimme fanden, habe sie nun auch den Mut gefunden, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Dann findet die Frau ein «#metoo»-besoffenes Organ, das diese Anschuldigungen abdruckt und damit eine öffentliche Hinrichtung des wahren Opfers, nämlich des Angeschuldigten, veranstaltet. Dass diese Behauptungen mehrfach untersucht und ins Reich der Fantasie verwiesen wurden, dass ausser dümmlichen Hakenkreuz-Kritzeleien als Kritik an germanischen Ausdrücken nichts belegbar ist, dass angebliche Augen- und Ohrenzeugen feige schweigen oder in den Untersuchungen die Behauptungen nicht bestätigt haben, was soll’s.

Dass sich diverse Behauptungen einfach widerlegen lassen – so hat eine angebliche beleidigende Äusserung des Chefredaktors an einer Weihnachtsfeier gar nicht stattfinden können, weil die Weihnachtsfeier nicht stattfand –, was soll’s.

Dass sich herausstellt, dass die Denunziantin sich – vergeblich – auf die Stelle ihres Vorgesetzten beworben hatte, obwohl der keinerlei Absichten hatte, sie zu verlassen, was soll’s. Dass es sich offensichtlich um die Rache einer beruflich verschmähten Frau handelt, die nicht gemobbt wurde, sondern ihren Chef wegmobben wollte, was soll’s. Das schaffte sie zwar, Tamedia trennte sich von ihm. Aber statt Triumph – endlich selber Chef werden – kam die Tragödie, auch sie wurde gefeuert.

Was bleibt? Der Ruf des Mannes ist unrettbar ruiniert, auf Jahre hinweg, wohl lebenslänglich findet er keinen Job mehr im Journalismus. Das gilt natürlich auch für die Denunziantin. Zurück bleiben – unter Mithilfe des einschlägig bekannten «Spiegel» – zwei beschädigte Menschen.

Dass die übrige Medienmeute wie meist mithetzte, losraste, belegfrei mit angeblichen weiteren «Zeugen» operierte, die natürlich anonym bleiben mussten und höchstwahrscheinlich erfunden sind, was soll’s. Dass sich neben dem «Spiegel» auch die «Zeit» von der Denunziantin via eine einschlägig bekannte, schlechte Journalistin für den Rachefeldzug einspannen liess, was soll’s.

Der Betroffene versuchte, mit einer Klage zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Auch Tamedia setzt sich juristisch zur Wehr, der Big Boss ist etwas angefasst, dass er in die Nähe von Harvey Weinstein, einem verurteilten Sexualstraftäter, gerückt wurde. Das Schicksal seines ehemaligen Chefredaktors ist ihm hingegen, pfeif auf die Fürsorgepflicht, schlichtweg egal.

Der lässt nun via Anwalt ausrichten, dass er seine Klage gegen den «Spiegel» zurückzieht. Die Belastung sei «sowohl finanziell wie psychisch» zu gross geworden. Das vermeldet «Inside Paradeplatz», der Finanzblog, der auch im Medienbereich die Konkurrenz abtrocknet. So kann das Schmierenblatt aus Hamburg triumphieren. Auch ein weiterer übler Denunziant, der immerhin den Journalismus verlassen hat, kann aufatmen.

Hat jemand gesiegt? Alle haben verloren.

Zunächst die Anklägerin; zu offensichtlich ist ihr Motiv, so unglaubwürdig ihre Erzählung, zu erfunden, konstruiert, zumindest nicht belegbar sind fast alle ihrer Vorwürfe.

Dann der Beschuldigte. Er konnte sich zwar erklären und fand einen Journalisten, dessen Reflexe noch funktionieren und der sich nicht von Narrativen leiten liess, sondern das tat, was ein Journalist tun muss: recherchieren, konfrontieren, analysieren. Aber er – und seine Familie – sind beschädigt, Opfer einer Kampagne geworden, öffentlich hingerichtet, gevierteilt und geteert und gefedert.

Dann das einmalige Nachrichtenmagazin aus Hamburg, das sich in letzter Zeit nicht entblödet, eine angebliche Enthüllungsgeschichte nach der anderen im besten #metoo-Framing zu veröffentlichen. Storys, die unter Augstein, unter Aust niemals erschienen wären. Aber die Würstchen, die sich seither in der Chefredaktion die Klinke in die Hand geben, haben jeden Massstab, jedes Niveau, jede Klasse verloren.

Schliesslich die übrigen Medien, hier zuvorderst CH Media und die «Zeit», die mit unbewiesenen Behauptungen, üblen Vermutungen, anonymen und erfundenen Zeugen («es war alles noch viel schlimmer») sich an der Hetze beteiligten und sogar einen Nasenstüber einfingen. CH Media musste einen Schmierenartikel löschen und sich öffentlich entschuldigen.

Entschuldigt sich jemand beim Betroffenen? Wird wenigstens dieser Fall zum Anlass genommen, über Vorverurteilungen, über den Verlust aller journalistischen Massstäbe, über das Kolportieren unbewiesener Behauptungen, über die Rolle angeblicher anonymer Zeugen nachzudenken?

Niemals. Schlamm drüber, die nächsten Säue sind schon längst durchs Dorf getrieben, Til Schweiger, Rammstein, ein Koch, der Sänger einer Brachialband, keiner ist heutzutage vor dieser Meute sicher.

Welch ein beschämender Anblick. Die Medien verwandeln sich in eine Horde von kläffenden, japsenden, geifernden Kötern, die einem Popanz nachrennen, jagen, zur Strecke bringen, sich verbeissen. Um dann plötzlich von der Beute abzulassen, um einer neuen Schimäre nachzujagen. Auf ein Neues. Auf ein Neues, bis Ruf, Ansehen, Renommee, Image genauso ramponiert, ruiniert sind wie die der Opfer dieser Hetzjagden.

Lang lebe die Unschuldsvermutung. Was für ein schaler Witz.

Darf der das?

Auch die NZZ ist enthemmt.

Man hätte vermuten dürfen, dass NZZ-Kommentator Ueli Bernays nach seinem skandalösen Titel «Der Künstler als Täter» ein Weilchen auf die Strafbank müsste. Nachdem bei der alten Tante der Verstand wieder einsetzte, wurde das immerhin in «Was ist Tat, was ist Fiktion» geändert. Ohne das allerdings dem Leser gegenüber transparent auszuweisen. Genauso wenig wie ein Plagiat in Bernays seinem Text. Das entspreche «selbstverständlich den üblichen redaktionellen Prozessen», machte sich das Weltblatt gegenüber ZACKBUM lächerlich.

Eine Wiederholung? Sicher, aber die NZZ, bzw. Bernays wiederholt sich doch auch …

Nachdem Bernays bedeutet wurde, dass eine Vorverurteilung trotz Unschuldsvermutung vielleicht nicht so toll sei, wechselt er nun das Pferd, das er zu Tode reiten möchte: «Justiziabel oder nicht – das moralische Empfinden sollte nach den Anschuldigungen gegen Till Lindemann nicht aussetzen.»

Aber dann kann er es doch nicht lassen: «Dass es dabei zu sexuellen Handlungen kam, legen die immer zahlreicheren Zeugnisse von Fans nahe, die sich in den Medien äussern. Immer wieder wird auch der Verdacht vorgebracht, einzelne Groupies seien mit Alkohol oder anderen Drogen gefügig gemacht worden.»

Zurück zu Bernays Wurzeln, der Künstler als –mutmasslicher, verdächtigter – Täter. Nun setzt Bernays zu einem logischen Salto mortale an:

«Es ist richtig, dass sich moderne Gesellschaften auf Gesetze verlassen, um sich von religiösen oder moralischen Zwängen zu befreien. Aber dabei sollte das moralische Empfinden nicht ganz ausgesetzt werden wie bei den zahlreichen Lindemann-Apologeten, die derzeit mit kühlem Zynismus über menschliche Abgründe hinwegsehen wollen.»

Hat man da Worte? Nein. Oder höchstens: Journalismus darf kein Deckmantel sein für Machtmissbrauch. Aber ob Bernays das versteht? Das versteht ja nicht einmal die NZZ …

Im Vollbesitz des allgemeingültigen moralischen Empfindens galoppiert Bernays aufs Neue los: «Zunächst wirken die systematische Groupie-Rekrutierung und das Machtgefälle stossend, das zwischen Rockstar und Groupies klafft

Weiter im Unterstellung- und Vermutungsjournalismus: «Hat aber auch jemand darauf geachtet, dass sie volljährig waren?» Weiss man’s? Weiss es Bernays? Gab es belästigte Minderjährige? Nichts Genaues weiss man nicht, aber man wird doch wohl noch denunziatorisch fragen dürfen.

Dann unterscheidet Bernays, immer noch im Vollbesitz seiner moralischen Kräfte, zwischen Kunst und Pornografie: «In der Kunst mag ja vieles als Rollenspiel durchgehen. In der Wirklichkeit der Pornografie kann sich der Darsteller aber nicht durch ein «lyrisches Ich» aus der Verantwortung ziehen.»

Dann wird’s ziemlich schwabbelig und schwurbelig: «Ähnlich der Volksmusik brauchen die Künstler so wenig Vorbildung wie ihr Publikum. Andrerseits hat sich aber ein hypertropher Starkult ausgeprägt, in dem sich Religiosität mit libidinösen Energien mischt.»

Hä?

Dann gibt Bernays ungefragt wohlfeil-absurde Ratschläge: «Wenn ein erwachsener Künstler auf einen jugendlichen Fan trifft, sollte er ähnlich wie ein Guru das Vertrauen des Schützlings nicht für seine Zwecke missbrauchen. Man sollte von Musikern eine professionelle Distanz den Fans gegenüber erwarten dürfen – gerade auch weil Stars der Versuchung wiederholt erlegen sind.»

Man sollte von einem NZZ-Journalisten auch dies und das erwarten dürfen …

Nun wäre Bernays eigentlich am Ende seiner moralischen Schaffenskraft, aber da ist noch Platz im Kommentar, den er auf 9118 Zeichen aufpumpt. Wie gelingt das? «Der Amerikaner Brian Warner alias Marilyn Manson sieht sich mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert; gegen ihn läuft ein gerichtliches Verfahren.»

Das unterscheidet nun Manson von Lindemann, gegen den zurzeit kein Verfahren läuft. Aber das ist für Bernays nur ein Treppchen, um zur nächsten Verleumdung zu schreiten: «Aufschlussreich ist auch der Fall des R’n’B-Stars R. Kelly, der unterdessen mehrfach dafür verurteilt worden ist, dass er minderjährige Fans sexuell missbraucht hat. Obwohl seine Vergehen in seiner Entourage ebenso bekannt waren wie im weiteren Musikbusiness, liess man ihn jahrelang gewähren; alle schauten weg

Nun kommt eine neuerliche Ungeheuerlichkeit: «So war es lange auch im Falle von Lindemann. Von den Mitmusikern über das Management bis hin zum Musiklabel – allen fehlte es einerseits an Zivilcourage und moralischer Intelligenz.»

Bezüglich Intelligenz sollte Bernays nun wirklich nicht mit Steinen werfen …

Tamedia-Boss Pietro Supino klagt gegen den «Spiegel», weil der ihn im Rahmen des Roshani-Skandals in die Nähe des verurteilten Sexualstraftäters Harvey Weinstein gerückt hat.

Hoffentlich klagt Lindemann gegen die NZZ, weil die das Gleiche tut. R. Kelly ist ein verurteilter Sexualstraftäter, den man jahrelang habe gewähren lassen.

«So war es lange auch im Fall Lindemann

ZACKBUM wiederholt sich: gibt es auch bei der NZZ keine Qualitätskontrolle mehr? Aber wir fragen nicht nach, die Antwort kennen wir schon, alles «übliche redaktionelle Prozesse». Meine Fresse.

 

Das Schweigen der NZZ

Etwas unerwartet, aber bezeichnend für den Zustand der Medien.

Journalisten erwarten, dass Medienstellen ihre Anfragen beantworten. Journalisten erwarten, dass das innerhalb der gesetzten Frist erfolgt. Wird nicht geantwortet, sind Journalisten sauer.

Einfach nicht antworten, das greift immer mehr um sich. Patrizia Laeri, Hansi Voigt, Jolanda Spiess-Hegglin, Aline Trede, (fast) alle Stiftungsräte von «Netzcourage», Swissaid: öffentlich ausgeteilt und behauptet wird gerne. Eingesteckt und beantwortet weniger gerne.

Nun reiht sich auch die NZZ ein. Im Zusammenhang mit dem bedenklich schlechten Stück ihres Mitarbeiters Ueli Bernays, einem völlig missglückten Denunziationsartikel, der auf die Unschuldsvermutung und die meisten journalistischen Regeln pfeift, bekam die Medienstelle diese Anfrage von ZACKBUM:

Der Titel über dem Artikel von Ueli Bernays lautete ursprünglich:
«Till Lindemann und Rammstein: Aus dem Künstler ist ein Täter geworden».
Der wurde nachträglich geändert in:
«Till Lindemann und Rammstein: Was ist Tat, was ist Fiktion?».
Dazu habe ich folgende Fragen:
1. Wie ist es möglich, dass der erste Titel mit einer ungeheuerlichen Unterstellung durch alle Kontrollinstanzen der NZZ rutschte?
2. Unbelegte Vorverurteilung, Missachtung der Unschuldsvermutung, Übernahme von Behauptungen anderer Medien ohne die geringste Eigenrecherche; ist das das Niveau, dass die NZZ einhalten möchte?
3. Normalerweise werden solche nachträglichen Eingriffe (deren gab es auch im Lauftext) transparent kenntlich gemacht, weil der spätere Leser die Veränderung nicht bemerkt. Wieso macht das die NZZ nicht?
4. Hat dieser Vorfall für den verursachenden Redaktor arbeitsrechtliche Konsequenzen? Schliesslich ist er Wiederholungstäter (Stichwort Roger Waters).
5. Im Text von Ueli Bernays heisst es:
«Ob es sich dabei um einvernehmlichen Sex gehandelt hat, ist kaum zu eruieren. Jedenfalls gab es kaum ein klares Ja.»
Das ist nun ein wörtliches Zitat aus dem entsprechenden Artikel der «Süddeutschen Zeitung», das aber nicht als Zitat gekennzeichnet ist. Handelt es sich hier nicht auch um einen journalistischen Faux-pas, der öffentlich korrigiert werden müsste?
Berechtigte Fragen, deren Bote ZACKBUM lediglich ist. Denn die Peinlichkeit hatte ja die NZZ publiziert; keine der Fragen ist ehrenrührig, unziemlich oder unanständig.
Unanständig ist hingegen, sie einfach mit Missachtung zu strafen. Antwortfrist verstreichen lassen, nicht einmal auf eine Nachfrage reagieren. Die üblen Verhaltensweisen von anderen kopieren. Wenn schon niveaulos, dann richtig, sagt sich wohl die alte Tante.

Denunziations-Maschinen

Soziale Medien werden zum Rache-Verstärker. Die Medien auch.

«Unter einer Denunziation versteht man das Erstatten einer (Straf-)Anzeige durch einen Denunzianten aus persönlichen, niedrigen Beweggründen, wie zum Beispiel das Erlangen eines persönlichen Vorteils. … Das Wort «denunzieren» hat noch eine weitere Wortbedeutung, nämlich „als negativ hinstellen, brandmarken, öffentlich verurteilen“.»

Die Definition des Begriffs aus Wikipedia ist einfach. Die Methode selbst ist abartig und widerwärtig. Dazu gibt es aus dem Jahre 1884 ein hübsches Gedicht, das das Wesen des Denunzianten auf den Punkt bringt:

«Verpestet ist ein ganzes Land,
Wo schleicht herum der Denunziant.
[…]
Der Menschheit Schandfleck wird genannt
Der niederträcht’ge Denunziant.»

Üblicherweise erfolgen Denunziationen anonym. Im Rahmen der «#metoo»-Bewegung hat sich aber ein neues Modell entwickelt. Der Denunziant steht mit seinem Namen hin, denunziert aber eine einzelne Person oder eine ganze Gruppe von nicht genannten Opfern. Herausragendes Beispiel ist dafür der «Protestbrief» von 78 erregten Tamedia-Mitarbeiterinnen, die über 60 angebliche Vorfälle als Beleg aufführten, dass im Konzern eine frauenfeindliche, diskriminierende, sexistische und demotivierende Stimmung herrsche.

Kleiner Schönheitsfehler: keine einzige dieser Denunziationen war verortbar. Es fehlten Umstände, Zusammenhänge, Zeitangaben. Daher konnte bis heute kein einziger Vorwurf verifiziert oder falsifiziert werden.

Eine Steigerung dazu stellt das dar, was gerade (und ausgerechnet) der linksradikalen deutschen Punkband «Feine Sahne Fischfilet» passiert. Sie muss sich damit auseinandersetzen, dass ein anonymer Blog anonyme und nicht einmal spezifizierte Vorwürfe angeblicher «sexualisierter Gewalt» mit angeblich 11 Opfern erhoben hat. Diese Denunziation tauchte im August 2022 im Internet auf und verfolgt die Band seither wie ein Gespenst.

Nicht nur für Patrizia Laeri sind solche Behauptungen sexueller Übergriffe ein wohlfeiles Transportmittel, um mal wieder in die Medien zu kommen. Solche Vorwürfe haben meistens drei Dinge gemein. Sie werden von einer Frau erhoben, sie liegen jenseits aller Verjährungsfristen in der Vergangenheit, sie wurden damals nicht aktenkundig gemacht, und sie richten sich zumindest öffentlich gegen unbekannt, gegen eine nicht genauer identifizierte Person. Damit wird jeglicher Klage oder Anzeige wegen Rufschädigung oder Ehrverletzung vorgebeugt.

Stellt sich in einer Untersuchung (die sich nach so vielen Jahren naturgemäss sehr schwierig gestaltet) heraus, dass sich der Vorwurf nicht erhärten lässt, zudem bei genauerer Betrachtung Widersprüche auftauchen, dann behauptet die Denunziantin, dass hier sicherlich schwerwiegende Fehler begangen wurden. Gerne deutet sie auch an, dass es sich um Männersolidarität handeln könnte.

Das Schweizer Farbfernsehen hatte es letzthin gleich mit zwei solcher Fälle zu tun. Einer betraf einen welschen TV-Starmoderator, der andere angeblich eine Führungskraft am Leutschenbach. Beide Denunziationen stellten sich als halt- und substanzlos heraus.

Die verschärfteste Version ist die öffentliche Hinrichtung mit Namensnennung in einem reichweitenstarken Titel. Das exerziert gerade eine gefeuerte Mitarbeiterin gegen ihren ehemaligen Chef und ihren Ex-Arbeitgeber durch. Beide hat sie öffentlich und mit Namensnennung denunziert, gegen den Arbeitgeber hat sie Klage eingereicht.

Besonders fatal ist hier noch, dass diese Denunziation im leserstarken «Spiegel» erschien, begleitet von einer fast zeitgleichen Veröffentlichung in der «Zeit» durch die offensichtlich mit der Denunziantin verbandelte Journalistin Salome Müller, die deren Behauptungen ungeprüft und im Indikativ übernahm. Zudem mit weiteren angeblichen anonymen «Zeugenaussagen» ausschmückte.

Hier zeigt eine genauere Überprüfung der konkret beschriebenen Vorwürfe, dass sie in ihrer grossen Mehrheit nicht haltbar sind, zum Teil aus der Lüge überführter Quelle stammen und von keinerlei namentlichen Zeugen bestätigt wurden.

Nicht einmal das mögliche und naheliegende Motiv der Urheberin – Rache, nachdem sie ihr Ziel nicht erreichte, den Posten des Angeschuldigten zu erobern und stattdessen gefeuert wurde – wurde vor Veröffentlichung zumindest überprüft.

Ob es sich um anonyme Anschuldigungen in den asozialen Medien oder um Behauptungen in den Mainstream-Medien handelt: immer entwickelt sich schnell ein ganzer Schwarm von Kolporteuren, die die Denunziation aufnehmen, ausschmücken, mit angeblichen (und natürlich auch anonymen) weiteren Zeugenaussagen unterfüttern.

In keinem dieser Fälle gelingt es jemals – unabhängig davon, ob die Vorwürfe erfunden und erlogen sind oder zumindest teilweise zutreffen –, den Geist wieder in die Flasche zu kriegen. Kann der Betroffene seine Anonymität wahren, hat er noch Schwein gehabt. In keinem einzigen Fall getraute sich ein so anonym Angerempelter, öffentlich hinzustehen und zu sagen: Ich soll der Täter gewesen sein, das ist aber erstunken und erlogen.

Obwohl oder gerade weil bei solchen Denunziationen die Beweisumkehr gilt. Nicht der Beschuldiger muss seine Behauptungen beweisen, der Beschuldigte muss seine Unschuld belegen können. Wie aber soll das ihm gelingen, da es sich meistens um Ereignisse handelt, die sich naturgemäss unter vier Augen, Ohren und zwei Körpern abspielten – sehr häufig vor vielen Jahren.

Nicht nur in der Schweiz gibt es erschreckende Beispiele für diese neue Denunziationskultur. Der deutsche Komiker Luke Mockridge wurde zu Unrecht der versuchten Vergewaltigung beschuldigt. Obwohl das Verfahren eingestellt wurde (eben typisch Männersolidarität), begleiten seine Tourneen seither Proteste, auch in der Schweiz, er soll gecancelt werden, von der Bühne verschwinden. Die Juso Zürich entblödeten sich nicht, gegen seinen Auftritt im Hallenstadion eine Petition zu starten.

Der US-Schauspieler Kevin Spacey verlor seine ihm auf den Leib geschneiderte Hauptrolle in «House of Cards»; bislang kam es zu keiner Verurteilung gegen ihn. Der schmutzige Scheidungskrieg zwischen Amber Heard und Johnny Depp endete trotz massiver Anschuldigungen gegen ihn mit seinem Sieg. Beschädigt blieben beide zurück. Dem 85-jährigen Morgan Freeman wurde vorgeworfen, vor vielen Jahren anzügliche Bemerkungen auf Filmsets gemacht zu haben. Schliesslich wurde Bob Dylan beschuldigt, vor fast 60 Jahren sexuell übergriffig geworden zu sein. Diese Klage machte ihn zum Rekordhalter, noch vor Dustin Hoffman, gegen den lagen die Vorwürfe lediglich rund 50 Jahre zurück.

Was all diesen Fällen gemeinsam ist: sie verhöhnen die Opfer wirklicher Belästigungen, Übergriffe, Vergewaltigungen. Vor den öffentlichen Gerichtshöfen der Moral werden gnadenlos und schnell gesellschaftliche Todesurteile ausgesprochen, Karrieren vernichtet, Menschen jahrelang wenn nicht lebenslänglich stigmatisiert.

Dass das Internet, die sozialen Plattformen dafür ungeahnte Möglichkeiten bieten, ist widerlich, aber wohl kaum vermeidbar. Dass sich auch sogenannte Qualitätsmedien daran beteiligen, allen voran und bedauerlicherweise der deutsche «Spiegel», ist abscheulich und wäre durchaus vermeidbar.

Dafür müssten sie sich nur an ein paar grundlegende Regeln des Handwerks erinnern. Motivlage des Anklägers. Faktencheck. Umfeldrecherche. Zeugenbefragung. Aufdecken von Widersprüchen. Und bei wackeliger Ausgangslage: Verzicht auf Publikation.

Aber seit der Unsitte der «Leaks» und «Papers», also das Arbeiten mit Hehlerware aus anonymen Quellen mit völlig undurchsichtigen Motiven, sind die Massstäbe eindeutig verrutscht. Nicht zum Wohle der Bezahlmedien …

Kläglich ist auch die Reaktion involvierter Medien auf Anfragen. Tamedia (wir wollen es bei diesem Begriff belassen) räumt lediglich ein: «Wir können bestätigen, dass eine Klage bei uns hängig gemacht wurde. Weitere Details dazu können wir nicht bekannt geben.» Also was genau Anuschka Roshani einklagte und wie sich Tamedia dagegen zu wehren gedenkt: Staatsgeheimnis. Auch die «Zeit», deren Mitarbeiterin Müller eine mehr als zwielichtige Rolle in der Affäre spielt, geruht nicht mehr, auf Anfragen zu reagieren. Ein Verhalten, das von Journalisten sonst gerne lauthals beklagt wird.

Besonders widerwärtig ist dabei, dass es auch rechtlich kaum Möglichkeiten gibt, sich gegen solche Denunziationen zur Wehr zu setzen. Was soll ein Gericht zu geschickt formulierten, viele Jahre zurückliegenden Vorwürfen sagen, die die Denunziantin damit begründet, dass es sich laut ihr so abgespielt habe oder sie zumindest eine Äusserung so empfunden habe?

Geradezu brüllend komisch ist eine Nebenwirkung dieser neuen Denunziationskultur. Viele Chefs entdecken hier den Vorteil des Grossraumbüros. Und sollten dennoch Gespräche zu heiklen Themen (ungenügende Arbeitsleistung, Kritik an einem Fehler, gar Kündigung) in vertraulichem Rahmen stattfinden, wird inzwischen immer ein Zeuge dazugerufen. Am besten weiblich und verlässlich. Damit die Kritisierte erst gar nicht auf die Idee kommt, mit einer Denunziation zurückzuschlagen.

Ausserdem getraut sich kein Mann, der noch bei Sinnen ist, in einen Lift einzusteigen, in dem sich eine einzige Frau befindet. Auch das Führen eines Tagebuchs drängt sich auf, mit wichtigen Eckdaten. So kann man dann beispielsweise den Vorwurf, es sei bei einer Jahre zurückliegenden Weihnachtsfeier zu anzüglichen Bemerkungen (oder gar Handlungen) gekommen, problemlos als Lüge entlarven, weil die Feier gar nicht stattfand – oder man gar nicht anwesend war …

Versuch der Einordnung

Auch hier wird’s kriegerisch, wenn es um die Ukraine geht.

Es ist wie bei einer Wahl oder Abstimmung. Bei allem Für und Wider muss man sich für einen Kandidaten entscheiden. Oder für ein Ja oder Nein. Abgesehen von Stimmenthaltung, aber das würde im Publizistischen einfach Schweigen bedeuten. Nun hat aber wohl (fast) jeder eine Meinung zum Ukrainekrieg.

Auch hier sind letztlich binäre Entscheidungen gefragt. Für welche Seite will man Partei ergreifen, mit welchen Argumenten. Unabhängig davon, ob man auf der Seite Russlands oder der Ukraine steht: bei 99 Prozent, ach was, 99,99 Prozent der hier Streitenden ist das völlig egal, spielt keine Rolle, hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse. Verlängert oder verkürzt den Krieg um keine Sekunde. Ändert null an seinem Verlauf.

Dennoch ist es geboten und nötig, sich Gedanken darüber zu machen. Schon alleine deswegen, weil der Ukrainekrieg auch Auswirkungen auf uns hat. Auf unser Leben, unser Budget, unsere Zukunft. Oder gar auf unser Ende.

Wir können die Ereignisse nicht beeinflussen. Aber wir können das Niveau und die Qualität der Argumente und Meinungen messen und beurteilen. Sowie versuchen, unter Anwendung von gesundem Menschenverstand und Logik aus intellektuellem Spass Analysen, Einschätzungen und Meinungen zum Besten zu geben. Wobei jede solche Äusserung einen unbestreitbaren Vorteil hat: niemand ist gezwungen, sie sich anzuhören oder zu lesen.

Alles freiwillig – und hier gratis. Das berechtigt den Betreiber der Plattform und den grossartigen Content Provider, für Zucht und Ordnung in den Kommentarspalten zu sorgen. Nebenbei gesagt.

Vor der binären Entscheidung – dafür oder dagegen, ja oder nein – steht eine möglichst hochklassige Erwägung. Solche gibt es. Aber sie sind begraben unter einem wahren Schuttberg von flachbrüstigen Krakeelern, Bedienern von Narrativen, Wiederholern von Banalitäten, Schreibtätern, die ungeniert nach mehr Gemetzel, Massakern und Zerstörungen in der Ukraine gieren. Mutigen Kriegsgurgeln, die ein direktes Eingreifen der NATO fordern und somit einen Dritten Weltkrieg in Kauf nehmen.

Bei ihnen ist es segensreich, dass auch ihre Meinungen und Forderungen ungehört verhallen.

Dann gibt es ganze Heerscharen, die ihre Aufgabe nicht in erster Linie darin sehen, eigene Gedanken zur Debatte beizusteuern, sondern in ihren Augen falsche Meinungen zu denunzieren. Dahinter vermuten sie meist unmenschliche, dumme, menschenverachtende, manipulierte Haltungen. Nassforsch fordern sie, dass solche Ansichten, gerne auch als Verschwörungstheorien denunziert, von der öffentlichen Debatte auszuschliessen seien.

Gleichzeitig kritisieren sie die in Russland herrschende Meinungszensur aufs schärfste. Übersehen, dass die auch in der Ukraine herrscht – und dass ein Verbot einer TV-Station wie Russia Today den gleichen Geist des obrigkeitshörigen Zensors atmet, der das Volk ja nur vor schädlichen Einflüssen beschützen möchte.

Wenn sich also ZACKBUM gelegentlich zu eigenen Meinungsäusserungen hinreissen lässt, so sind sie immer von zwei Faktoren begleitet. Der erste und wichtigste: wir zweifeln in erster Linie an allem. Natürlich auch an uns. Niemals wollen wir die einzige, richtige, wahre Wahrheit verkünden. Wir sind auch lernfähig, ein zweites Alleinstellungsmerkmal. So ist der Kommentar von Andreas Rüesch «Wer auf den Knien um Putins Gas bettelt, ruft zur Kapitulation gegenüber Russlands Grossmachtpolitik auf», ein auf einsamer Flughöhe geschriebenes Denkstück. Schade, dass es hinter der Bezahlschranke der NZZ steht, schade, dass eine Spur Parteipolitik den Leser leicht verstimmt.

Aber der Inhalt, die Stringenz der logischen Argumente, das ist herausragend. Zunächst zerpflückt Rüesch die Argumente der Unternehmerin und SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher, die sich für Verhandlungen mit Putin starkmacht. Ein Deal sei vor allem im Interesse Europas, argumentiert die Politikerin. Rüesch hält dagegen:

«Zunächst ist festzuhalten, dass Putin kein Dummkopf ist. Dass man ihn dazu bewegen könnte, wenigstens die Energieversorgung bis nächsten Frühling zu garantieren, wie dies die Nationalrätin fordert, mag man sich in helvetischer Schlaumeierei erhoffen. Aber Putin weiss selbstverständlich, dass seine Energiewaffe jetzt am schärfsten ist, solange Europa noch Anpassungsprobleme hat. Schon 2023 ist sie wesentlich stumpfer. Wer jetzt eine Vereinbarung mit ihm sucht, zahlt entsprechend einen viel höheren Preis am Verhandlungstisch.

Zudem ist es keineswegs so, dass mit Moskau niemand Gespräche über eine Friedenslösung geführt hat. Das Problem ist vielmehr, dass Russlands Forderungen unerfüllbar hoch sind. Die Ukraine bietet an, ihr Nato-Beitritts-Gesuch zurückzuziehen und ihre politische Neutralität zu erklären. Doch der Kreml ist darauf nicht eingestiegen und setzt auf eine militärische Lösung, um sich einen möglichst grossen Teil des Landes einzuverleiben.

Denn wer das Grundprinzip einmal akzeptiert hat, dass Grenzen gewaltsam verschoben werden dürfen, muss mit einer Wiederholung jederzeit rechnen. Putins Wort oder Unterschrift ist nicht zu trauen. Er hat eine zweistellige Zahl von völkerrechtlichen Abkommen gebrochen, von der Uno-Charta und der Europäischen Sicherheitscharta über die Nato-Russland-Grundakte bis hin zu diversen Verträgen, in denen er die territoriale Integrität der Ukraine hoch und heilig anerkannt hatte. Eine Hinterzimmer-Vereinbarung mit dem Kreml würde Europa zu langfristiger Unsicherheit verdammen – und damit auch zu massiv höheren, volkswirtschaftlich belastenden Militärausgaben.»

Das ist nur ein – längerer – Ausschnitt aus dem Argumentarium von Rüesch. Er macht damit vor allem bewusst: Die Auswirkungen des Ukrainekriegs gehen uns alle an. Es ist kein lokal begrenzter Konflikt, wo ein Hegemon seinen Hinterhof aufräumen möchte. Es geht auch nicht um das Hinaufstilisieren eines korrupten, von Oligarchen beherrschten Pleitestaats Ukraine zum grossen Heldenballett. Es geht nicht um die Dämonisierung eines wahlweise kranken, verrückten, verbrecherischen, dummen, gescheiterten Kreml-Herrschers, der demnächst von seinem Posten entfernt werden wird.

Das ist dummes Geplapper, daran halten wir fest. Der Krieg wird mit Verhandlungen enden, das ist sonnenklar. Oder mit dem Einsatz von Atombomben, und dann ist alles egal. Aber wann diese Verhandlungen beginnen, und aus welcher Position heraus, das ist durchaus entscheidend. Der Westen, auch die Schweiz, hat dabei ein Problem. Bislang wurden alle Sanktionen und Waffenlieferungen so gesteuert, dass sie einerseits der Bevölkerung in Europa nicht zu sehr schaden. Die Benzinpreise sind zwar gestiegen, aber dank dem Wegfall der Corona-Sanktionen war die Reiselust im Sommer seit Jahren nicht so gross wie heuer.

Alleine die Unfähigkeit der Flugindustrie, also Airlines und Flughäfen, sorgt hier für Wermutstropfen im Glücksferiengefühl. Aber richtig weh würde Russland nur ein möglichst rascher Stopp aller Gas- und Ölimporte tun. Denn eine «Umleitung» nach Asien, konkreter nach China, das dauert laut russischen Angaben rund drei Jahre, bis die dafür nötige Infrastruktur steht. Das ist also das Zeitfenster, das der Westen hat. Anschliessend schliesst es sich …

Das wiederum hätte keine tödlichen, aber dramatische Auswirkungen auf die europäische Volkswirtschaft. Doch wer von den Ukrainern Helden- und Todesmut fordert und sie dafür mit Waffen beliefert, sollte so ein Opfer nicht scheuen.

Auch das ist natürlich nur eine Meinung, die mit Denkfehlern behaftet sein kann. Aber es scheint uns nur konsequent: wer aus der Ukraine eine Auseinandersetzung zwischen West und Ost, Freiheit und Demokratie gegen Unterdrückung und Autokratie macht, wer also oberhalb des Schiesskriegs einen Systemkrieg sieht, der sollte konsequenterweise die Umstellung auf Kriegswirtschaft fordern. In Europa und in der Schweiz.

Alles andere wäre nicht zu Ende gedacht, wäre das wohlfeile Fordern, dass sich die Ukrainer doch bitte für die Sache des freien Westens totschiessen lassen sollen. Während wir dann mal bereit wären, uns finanziell am Aufräumen des Schlamassels zu beteiligen. So denken all die, die wir hier weiterhin als dümmliche Kriegsgurgeln beschimpfen werden.

Wobei der Betreiber der Plattform sich das Privileg herausnimmt, zwar immer konkret und argumentativ, aber doch auch mit Schärfe zu kommentieren. Wer in den Kommentarspalten abstrakt formuliert, aber ohne Argumente auf den Mann spielt, wird zukünftig konsequent gekübelt.

Hoch lebe die Denunziation

Philippe Reichen klagt an. Seine Journalistenkollegen der Westschweiz.

Tamedia-Redaktor Reichen warf sich schon in die Schlacht, als es um Sexismusvorwürfe in der Romandie ging. «Die Mauer des Schweigens bricht», verkündete er mit dramatischem Tremolo.  Das dann alle Vorwürfe gegen einen ehemalige Star des Westschweizer Fernsehens zusammenbrachen, was soll’s, dann stellt man halt das Getrommel ein und kümmert sich um andere Sachen.

Zum Beispiel um einen neuen Skandal: «Einflussreiche Westschweizer Journalisten distanzieren sich kaum vom russischen Präsidenten.» Das ist unerhört:

«Trotz Krieg zeigen sie Verständnis für Putin».

Wen nagelt Reichen denn da an den öffentlichen Schandpfahl? Da wäre mal «Eric Hoesli, Ex-Chefredaktor von «Le Temps» und amtierender Verwaltungsratspräsident derselben Zeitung». Was macht denn dieser Putin-Versteher? Er sagt doch tatsächlich: «Er verurteile den Krieg, aber es gebe nach wie vor «eine Form von Rationalität im Kopf von Wladimir Putin», stellte Eric Hoesli fest.»

Mais ça va pas, merde alors, Hoesli erklärt Putin nicht für verrückt? Nicht mal für krank? Aber der ist ja nicht der Einzige: «Guy Mettan, ehemaliger Chefredaktor der «Tribune de Genève», setzte noch einen drauf, er «bezeichnete die Ukraine am Abend nach Kriegsbeginn gar als «das korrupteste Land Europas»». Wie kann der nur so etwas sagen. Stimmt zwar, aber doch nicht zum Kriegsausbruch.

Aller schlechten Beispiele sind drei: «Myret Zaki, Ex-Chefredaktorin des Wirtschaftsmagazins «Bilan», stellte den russischen Feldzug in ihrer Westschweizer «Blick»-Kolumne wiederum in einen Zusammenhang mit einer angeblichen amerikanischen Politik der «Derussifizierung» in Osteuropa.»

Reichen schüttelt es und schüttelt es

Aber der Schlimmste ist schon Hoesli, den bewirft Reichen ausdauernd mit faulen Eiern. Der habe zwar auch in einer TV-Diskussion eine «extrem schwere Verletzung des internationalen Rechts» konstatiert, muss der anklagende Schreiber einräumen. Aber gleichzeitig habe Hoesli doch «Kritik an den Sanktionen angedeutet», ja die Neutralität der Schweiz bezweifelt. Was trauen sich der Herr, unglaublich. Denn Hoesli ist nicht nur Putin-, nein, er ist auch Russland-Versteher und erzählt doch was von einer Desillusionierung über den Westen in der russischen Bevölkerung. Das bringt ihm aber eine scharfe Rüge von Reichen ein:

«Doch sind die von Hoesli beschriebenen Gefühle keine Folge der gezielten Desinformationskampagne der vom Kreml kontrollierten Medien, zu denen der TV-Sender Russia Today gehört? Was sagt Hoesli angesichts der staatlichen Desinformation zur Tatsache, dass er und das russische Honorarkonsulat 2018 die stellvertretende Chefredaktorin von Russia Today für eine Konferenz an den Genfersee nach Coppet einluden und sie ihr Konzept des «disruptiven Journalismus» präsentieren liess?»

Nimm, das Hoesli, und antworte, bereue, gehe in dich, erzähl nicht solchen Putin-Quatsch. Aber der Frechdachs habe doch nicht auf «Anfragen dieser Zeitung reagiert». Typisch für einen Putin-Versteher.

Der Höhepunkt kommt am Schluss

Geht’s noch schlimmer? Allerdings, den Höhepunkt hat sich Reichen für den Schluss aufgehoben, ein selten niederträchtiges, dem Kreml-Herrscher kriecherisch ergebenes Stück Versagen: «Die Freiburger Zeitung «La Liberté» hatte entschieden, Putins Rechtfertigungsrede für den Einmarsch in die Ukraine als Inserat abzudrucken. In der Rede sprach Russlands Präsident unter anderem davon, die Ukraine entnazifizieren zu wollen. Bezahlt wurde das Inserat von einem Freiburger Anwalt.»

Wie rechtfertigt sich denn der verantwortungslose Verantwortungsträger der Zeitung? «François Mauron, Chefredaktor von «La Liberté», rechtfertigte die Publikation des Inserats mit dem Argument der freien Meinungsäusserung, die auch für Putin gelte. Putins Monolog lasse einen zwar «sprachlos» zurück, aber verstosse nicht gegen Schweizer Recht, so Mauron.»

Das macht nun auch Reichen sprachlos. Wie kann man es nur wagen, einen Text dieses wahnsinnigen Unmenschen abzudrucken, aus schnöder Gewinnsucht, und dann noch behaupten, das sei legal? Eigentlich sollte man mit der «Liberté» das Gleiche machen wie mit «Russia Today»: verbieten. So viel Freiheit muss doch mal sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Minenfeld Israel

Linke winden sich, die Tempelwächter des Staates Israel verbellen jede Kritik an seinen Taten.

Alle israelfreundlichen Kreise, aus welchen Motiven auch immer, versuchen nicht ohne Erfolg, jede Kritik an Handlungen dieses Staates durch Denunziation zum Schweigen zu bringen.

Als die US-Politwissenschaftler John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt 2006 die Untersuchung veröffentlichten: «Die Israel-Lobby und die US-Aussenpolitik», wurden sie niedergeschrien und niedergemacht.

Denn ihr These lautete, dass die weitgehend vorbehaltlose Unterstützung Israels durch die USA den Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufe und letztendlich beiden Staaten schade.

Den Artikel hatte «Atlantic Monthly» 2002 in Auftrag gegeben – und verweigerte den Abdruck. Erst 2006 wurde er in der «London Review of Books» publiziert. Eine erweiterte Fassung als Buch.

Es ist ein streng wissenschaftlicher Text, der mit der üblichen Methodik der Politwissenschaften dieses Verhältnis umfangreich dokumentiert darstellt. Und zu dieser These kommt.

Die englische Ausgabe ist noch lieferbar, die im Campus-Verlag erschienene deutsche Version nicht mehr. Das muss nun nicht den langen Arm der Israel-Lobby in Deutschland belegen, und die These der Wissenschaftler ist eine diskutable Position.

Spielen auf der Denunziations-Klaviatur

Die aber fast überhaupt nicht diskutiert wurde, sondern die beiden Wissenschaftler wurden aufs übelste beschimpft, ihnen wurde die übliche Klaviatur von Antisemit bis Anti-Zionist vorgespielt.

Genau gleich verhalten sich aktuell viele Meinungsbildner auch in den Schweizer Medien. Es geht dabei gar nicht darum, Partei zu ergreifen oder sich für eine der beiden Seiten im wiederaufgeflammten Krieg zwischen Palästinensern und dem israelischen Staat zu entscheiden. Und nur die Greueltaten der jeweils anderen Seite zu beklagen.

Eigentlich wäre hier, wenn das überhaupt möglich ist, Analyse und Erklärung gefordert. Ziemlich alleine auf weiter Flur steht zurzeit die NZZaS. Sie weist völlig zu Recht darauf hin:

«Der Auslöser für die Gewalt war die drohende Wegweisung palästinensischer Familien in Ostjerusalem. Ihre Häuser stehen auf Land, das einst Juden gehört hatte, bevor Jordanien Ostjerusalem nach dem israelisch-arabischen Krieg 1948 besetzte. Israel erlaubt den Erben dieser Eigentümer, ihren Besitz zurückzufordern. Palästinensern wird jedoch umgekehrt dieses Recht für ihre früheren Häuser in Westjerusalem, aus denen sie vertrieben wurden, nicht gewährt.»

Das war der Auslöser, der entweder überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnt wird.

Barbarei und  Greueltaten gegen berechtigte Gegenwehr

Das zeugt einfach vom üblichen unterirdischen Kenntnisniveau der meisten Journalisten. Wer sich aber darin erschöpft, «gerechtfertigte Gegenwehr» zu erklären und zu verteidigen, treibt einen weiteren Sargnagel in das Ansehen des Journalismus. Denn eigentlich sollte er auch hier leisten: beschreiben, was sich dort abspielt. Versuchen, diese Ereignisse verständlich zu machen, analysieren, einordnen.

Vielleicht auch darauf hinzuweisen, dass der Konflikt existiert, existierte, weiter existieren wird, wenn keine Lösung dafür gefunden wird. Welche Methoden welcher Seite abscheulich, welche gerechtfertigte Notwehr, welche barbarisch, welche zivilisiert sind, das einzuordnen traue ich mir nicht zu.

Andere Art, die Analyse von Adolf Muschg zu bestätigen

Aber das Urteil schon, dass hier in einer Art negativer Dialektik die Argumentation gegen die Verwendung des Wortes «Auschwitz» durch Adolf Muschg durchexerziert wird. Denn auch hier wird sofort klargestellt, wes Geistes Kind jemand sei, der nicht eindeutig für Israel Partei ergreift. Der negiere die historische Schuld, sei deshalb nicht nur als Palästinenserfreund und damit auch gleich Anhänger von blutrünstigen Terrorgruppen zu denunzieren, sondern in enger Umarmung mit Rechtradialen, Holocaust-Leugner und ähnlichem Abschaum.

Dabei ist auch diese Debatte wieder ein Beleg für die Richtigkeit der Analyse von Muschg. Ausgrenzung und Stigmatisierung Andersdenkender, völlige Unfähigkeit zur Selbstrefelexion, weil man unter dem Gewicht der eigenen moralischen Überlegenheit kaum mehr laufen kann. Das sind Denkmuster, die zumindest unter Totalitarismus-Verdacht stehen. Und die absolute Überzeugung der Richtigkeit der eigenen Positionen, der Befähigung, moralisch und ethisch alles abkanzeln zu dürfen und müssen, das diesem Weltbild in der Weltblase nicht passt, das ist nun tatsächlich die road to Auschwitz.