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Meinungsfreiheit

Wie unser wichtigstes öffentliches Gut vor die Hunde geht.

Man kann den Papst als senilen alten Knacker bezeichnen, der gegen seine übergriffigen Pfaffen nichts unternimmt. Man kann eine Kriminalgeschichte des Christentums schreiben, ohne auf dem Scheiterhaufen zu landen. Wenn man Mohammed als analphabetischen Pädophilen bezeichnet, kann das selbst in unseren Breitenkreisen Ärger geben.

Täte man das in einem vom Islam versklavten Land, wäre man gut beraten, vorher sein Testament zu machen. Das ist keine Nebensächlichkeit, sondern ein essenzieller Unterschied zwischen dunklem Mittelalter, Rückschritt, miefigem fortschrittsfeindlichem Glauben und einer prosperierenden Gesellschaft.

Ohne Meinungsfreiheit kein Wohlergehen, so einfach ist das.

Nun kann aber keine Freiheit grenzenlos sein, sonst wird sie zu Willkür und führt zu Perversionen. Die Forderung, alle Juden umzubringen, die Behauptung, Frauen seien Menschen zweiter Klasse und weniger wert als ein Kamel, die unsinnige Meinung, dass alle Schwarzen dümmer seien als alle Weissen, das ist nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Dummheit hingegen ist nicht verboten und darf frei geäussert werden. Wäre das strafbar oder sanktioniert, würden die meisten Zeitungen mit grossen, weissen Flecken erscheinen. Die Scharfrichter der öffentlichen Meinung sind aber gnadenlos. Selbst eine Heilige wie Greta Thunberg wird vom Olymp gestossen, wenn sie Meinungen äussert, die nicht in den Mainstream passen.

Nun hat sich in den USA, dem Mutterland der freien Meinungsäusserung, Erstaunliches zugetragen. Denn auch an dortigen Eliteunis fanden pro-palästinensische Manifestationen statt, die beispielsweise dem Staat Israel sein Existenzrecht absprachen. Ist das nun von der Meinungsfreiheit gedeckt oder nicht?

Zu diesem Thema fand ein Hearing im US-Kongress statt. Vorgeladen waren die Präsidentinnen (ausschliesslich Frauen) der berühmten Unis Harvard, Penn und MIT.

Sie wurden dazu befragt, ob sie selbst judenfeindlichen Tönen ihrer Studenten entgegentreten wollten und solche Äusserungen ohne Wenn und Aber verurteilten. Oder ob sie der Auffassung seien, dass selbst Aufrufe zum Völkermord durch die Meinungsfreiheit gedeckt seien. Eine Trump-Anhängerin im Hearing verlangte dazu ein klares Ja oder Nein als Antwort.

Das blieben ihr die drei Präsidentinnen schuldig, was in den asozialen Plattformen für grosses Gebrüll sorgte. Ist es also erlaubt, «from the river to the sea, Palestine will be free» zu skandieren, kann das so interpretiert werden, dass es dem jüdischen Staat sein Existenzrecht aberkennt?

Nein, ZACKBUM will und kann hier keine höchstrichterlicher Antwort geben. Aber das Beispiel illustriert wunderbar, worum es bei der Meinungsfreiheit geht. Sie gilt nicht absolut, aber ihre Grenzen sind nicht klar und deutlich definierbar. Denn sicher, menschenverachtende, rassistische oder zu Gewalt aufrufende Äusserungen sind verboten. Nur: ab wann sind sie das? Wer definiert das? Wo fängt die notwendige Begrenzung an, wo schlägt sie in Zensur um?

Denkverbote, Sprechverbote, Schreibverbote, Einschränkungen des herrschaftsfreien Diskurses durch selbsternannte Wächter des Erlaubten – das ist Gift. Gift für unsere einzige Methode, unseren Königsweg zu Erkenntnis und Fortschritt: die nur durch das Strafgesetzbuch und ein allgemeines Verständnis von Anstand begrenzte öffentliche Debatte mit (fast) allem Denk- und Sagbaren.

Davon sind wir auch in den westlichen Gesellschaften so weit entfernt wie seit der Aufklärung noch nie.

 

Das Einzelne und das Allgemeine

Besinnlicher Sonntag zum Desaster durch verrutschende Ebenen.

Jeder Anfänger des Journalismus lernt, wenn er überhaupt noch etwas lernt: Berichte über Trends haben einen amtlich vorgeschriebenen Aufbau.

Man fängt mit einem Beispiel an. «Velofahrer Fritz K. (Name der Redaktion bekannt), gibt offen zu: «Ich pfeife auf rote Ampeln oder andere Verkehrsregeln.»» Darauf wird ein zweites Beispiel gestapelt, um den Anlauf für den Aufschwung ins Allgemeine zu nehmen. «Nicht nur Fritz K. und Marlies M. halten sich nicht an die Regeln. Wie eine neue Untersuchung der Beratungsstelle für Unfallverhütung …»

Es ist also ein Trend. Garniert wird das noch mit Stellungnahmen von Verbänden oder Fachleuten («VCS: es braucht halt mehr Velowege», ACS: «Velofahrer nerven sowieso.»). Dann noch ein paar Unfallstatistiken, vielleicht ein Opfer, das von einem Velofahrer umgerempelt wurde, die üblichen Politiker und Wissenschaftler.

Piece of cake, wie der des Englischen mächtige Redaktor sagt, geht eigentlich zu jedem Thema und kann man als Füller am Fliessband herstellen. Je nach Wunsch kann man das als Hintergrundrecherche aufziehen oder zum Aufreger hochzwirbeln. Je nachdem, ob man vornehm zurückhaltend einen NZZ-Titel drübersetzt oder «Terroristen auf dem Velo» drüberstülpt.

Wenn’s läuft, hat man eine kleine Goldader angestochen

Dann noch ein mehr oder minder staatstragender Kommentar dazu, je nachdem, ob man vermutet, die Leser seien mehrheitlich für Velo oder dagegen eingestellt. Saubere Sache, gehört zum Standardrepertoire, hat als Notnagel schon oft geholfen.

Greift der Kommentator kräftig in die Tasten, sehen Politiker die Möglichkeit, sich zu profilieren, melden sich weitere, noch nicht berücksichtigte Fachleute, dann jubiliert der Chefredaktor.

Und greift nochmals in den Stehsatz. Es sei hier eine Debatte angestossen worden, da gebe es vertieften Gesprächsbedarf, da prallten die Meinungen aufeinander, das werde man ein Pro und Contra veranstalten, eine Diskussionsrunde moderieren, Erfahrungen aus anderen Ländern heranziehen, Verkehrspsychologen, gesundheitliche Aspekte, aber natürlich müssten auch die Interessen der Autofahrer (schliesslich ist das Verhältnis Autoanzeigen – Veloreklame sehr einseitig) berücksichtigt werden.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass verlässliche Zahlen für den Aufschwung ins Allgemeine vorhanden sind. Und unter Wissenschaftlern ein gewisser Konsens existiert, was die Beurteilung der Problemlage und mögliche Abhilfen betrifft.

Wenn alle diese Regeln nicht funktionieren …

Der intelligente ZACKBUM-Leser, und wir haben ja nur solche, ahnt schon, wo das hinführt. Die meisten dieser Regeln sind bei der medialen Beobachtung der Pandemie ausser Kraft gesetzt.

Beispiele gibt es natürlich genug. Von in der IPS geretteten, ungeimpften Patienten, die vor Dankbarkeit überströmen und bitterlich bereuen, sich nicht sofort und mehrfach und immer wieder geimpft zu haben.

Es gibt auch Beispiele von Menschen, die unter gravierenden Nebenwirkungen der Impfung litten. Es gibt Geimpfte, die erkranken, und es gibt Ungeimpfte, die es ihnen gleichtun. Es gibt zurechnungsfähige Ärzte, die sich nicht impfen lassen. Es gibt zurechnungsfähige Ärzte, die das als fahrlässig und verantwortungslos beschimpfen.

Es gibt Widersprüchlichkeiten zu Hauf, statt klärende Worte. Was auf den ersten Blick absurd erscheint, macht auf den zweiten Sinn, zum Beispiel:

Lieber unter getesteten Ungeimpften, als unter ungetesteten Geimpften.

In einer solchen Debatte hülfe normalerweise das altbekannte Besteck. Was sagen denn die Statistiken, wohin geht der Trend, was sagt die Wissenschaft, welche Lehren können wir aus anderen Ländern ziehen, die mit der Schweiz vergleichbar sind?

Widersprüche statt Klärung

Das wäre toll. Ist aber nicht. Denn es gibt jede Menge sich widersprechender Statistiken. Es gibt jede Menge sich widersprechender Interpretationen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Impfquote und Anzahl Neuinfektionen. Es gibt keinen Zusammenhang. Viele Wissenschaftler sind sich einig: es muss alles durchgeimpft werden. Viele Wissenschaftler sind sich einig: das bringt ab einem gewissen Prozentsatz nichts mehr.

Wenn es im wahrsten Sinne des Wortes keine Allgemeinplätze mehr gibt, also keine allgemein anerkannten, allgemein gültigen, allgemein verbindlichen Erkenntnisse, dann zersplittert die Debatte.

Wer sich vernünftig eine Meinung bilden will, braucht vernünftigen Input. Aus glaubwürdiger Quelle. Abgestützt durch allgemeingültige Zahlenwerke, Statistiken, vernünftig nachvollziehbare Analysen. Von anerkannten und glaubwürdigen Fachleuten. Denn eigentlich ist doch kaum einer Epidemiologe, Virologe, Seuchenspezialist. Dafür geben wir als Gesellschaft doch einen hübschen Batzen Geld aus, dass es genau solche Fachleute hat.

Deren Tätigkeit in Nicht-Seuchenzeiten doch eher akademisch ist, der Erforschung vergangener Seuchenzüge dient oder allenfalls der Unterstützung von Weltgegenden, in denen bei uns längst ausgerottete Infektionen noch virulent sind.

Mehr Fachleute, mehr Meinungen

Aber nun, wo man sie bräuchte, stellt das Publikum fest, dass der alte Scherz leider weder komisch, noch aus der Luft gegriffen ist: zwei Fachleute, drei Meinungen. Auch Zahlenwerke verwandeln sich in Dschungelgebiete; Inzidenzwert, R-Faktor, 7-Tages-Durchschnitt, Index, was bedeutet was?

Hinzu kommt eine neue Lieblingsbeschäftigung von Meinungsträgern und den Echokammern in den Medien: die Anrufung der Apokalypse. Das kriegt man bei einem üblichen Trend schwer hin; der Kampf zwischen Auto- und Velofahrern kann niemals zu einem atomaren Schlachtfeld hochgeschrieben werden.

Aber eine Virusepidemie, die sowieso verwurzelte Grundängste stimuliert, weil in unserer DNA noch Erinnerungen an Pestzüge schlummern, weil der Feind unsichtbar, heimtückisch ist, überall lauern kann, ist die Öffentlichkeit anfällig für alles Gekreisch, wissenschaftlich verbrämt oder nicht, dass das alles ganz übel enden könnte.

Das einzige Glück in diesem Durcheinandertal besteht wohl darin, dass die Kirche nicht mehr den gleichen Einfluss hat wie einige Jahrhunderte zurück. Sonst wäre Corona schon längst zu Gottes Strafe umgedeutet worden, wegen sündigem Tuns, unchristlichem Lebenswandel und mangelhafter Berücksichtigung biblischer Gesetze.

Aber wer weiss, kann alles noch kommen.

Reise in die Verlorengegangenheit

Aus der Reihe nachdenklicher Sonntag: Es gab mal eine Debattenkultur.

Selten ist eine Auseinandersetzung um eine Abstimmungsfrage dermassen gehässig,  nicht kooperativ und geradezu verbiestert geführt worden wie bei dem Referendum gegen das verschärfte Covid-Gesetz.

Die inhaltliche Argumentation ist vorbei; niemand wird heute noch von seiner Meinung, ob ja oder nein, abweichen. Daher ist es höchste Zeit, sich Sorgen um unsere Debattenkultur zu machen.

Von Platon bis heute zerbrechen sich Philosophen den Kopf darüber, welche Erkenntnismöglichkeiten wir haben. Vom Höhlengleichnis bis zu Systemtheorien gibt es unzählige Versuche, unser Verhältnis zur uns umgebenden Realität zu verstehen. Ist das alles nur in unserem Kopf? Gibt es eine Wirklichkeit, die unabhängig vom Betrachter existiert? Wichtiger noch: wie verhalten sich zwei erkennende Subjekte zueinander?

Am allerwichtigsten: mit welchen Methoden können wir Fortschritt befördern, was dient einem besseren Verständnis, damit einem adäquateren Verhalten, damit einem zunehmenden Wohlergehen für möglichst viele?

Diskursfähigkeit ist das Zauberwort

Nein, alle letzten Fragen der Menschheit werden hier nicht beantwortet. Daran zu scheitern, überlassen wir glaubensstärkeren Mitmenschen. Das stimmt nicht; wir warnen ausdrücklich vor überzeugten Besitzern von Wahrheiten. Nichts gegen klare Ansichten. Ermangeln deren Besitzer aber der wichtigsten Eigenschaft eines Menschen, geht’s direkt in die Hölle des Fanatismus, der Umerziehung, des Zwangs zum Besseren, der Vernichtung des Falschen, Bösen, Schlechten.

Auf schmalen Pfaden zur Erleuchtung durch Erkenntnis.

Die wichtigste Eigenschaft ist Diskursfähigkeit. In den Salons des 17. Jahrhunderts entstand das, was wir heute Aufklärung nennen, das goldene Zeitalter des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Mit welcher Methode wurde damals eigentlich die Erkenntnis befördert? Ganz einfach, mit der Methode des respektvollen Disputs. Alles ist dabei erlaubt. Falsches, Schockierendes, den Sitten und Normen nicht Entsprechendes. Die Ansichten eines de Sade genauso wie die Überlegungen eines Montesquieu oder Rousseau. Eines Marat, Robespierre, Danton, de la Mettrie oder eines Guillotin. Vorausgesetzt, man hielt sich an selbstverständliche Regeln von Anstand und Höflichkeit.

Dazu gehörten auch nur wenige Dinge.

Man lässt sich gegenseitig ausreden. Man zeigt zunächst, dass man die Argumentation des anderen verstanden hat, bevor man allenfalls zu einer Erwiderung und Kritik ansetzt.

Kommunikatives Handeln statt strategisches

Einen modernen Meilenstein in dieser Debatte setzte die «Theorie des kommunikativen Handelns» von Jürgen Habermas. Ein zweibändiger Wälzer, in der üblichen, nicht gerade leichtverständlichen Sprache eines Philosophen und Soziologen abgefasst.

Dabei ist seine Grunderkenntnis so einfach wie überzeugend. Gesellschaftlicher Fortschritt ist garantiert, wenn ein herrschaftsfreier Diskurs möglich ist. Der kann dann stattfinden, wenn ein paar wenige Bedingungen erfüllt sind:

  • Die Kommunikationspartner sind gleichberechtigt
  • Sie haben die gleichen Möglichkeiten sich zu äussern
  • Die Kommunikation ist symmetrisch
  • Die Entscheidungsfindung erfolgt durch den «Zwang des besseren Argumentes»

So wird der Pfad der Erkenntnis zur Strasse.

Man sieht sofort: das ist die Beschreibung eines Idealzustands, der natürlich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht existiert. Statt sich aber in komplexen Debatten über die Hindernisse, die Machtverhältnisse, die Rolle der Massenmedien, die Herrschaftsstrukturen oder gar in Genderwahnsinn zu verlaufen, kann man diesen Idealzustand einfach als Massstab verwenden.

Herrschaftsfreier Diskurs als Messfühler

Als Messfühler, wie fortschrittsfähig eine Gesellschaft ist. Wobei Fortschritt ganz allgemein als zunehmendes Wohlergehen möglichst vieler Teilhaber der Gesellschaft definiert sei.

Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern auf der Welt, wo Diskurse relativ frei stattfinden können.

Auch hier ist die Meinungsfreiheit weder grenzenlos, noch kostenlos. Aber eigentlich wären die Voraussetzungen für Diskurse zwecks Erkenntnisgewinn vorhanden.

Die jeweils in einem wahren Crescendo endenden Debatten über die richtigen Methoden zur Bekämpfung der Pandemie belegen aber leider, dass die Entfaltung der Diskursfähigkeit einer Gesellschaft nicht unumkehrbar ist.

Damit ist nicht das Vorhandensein von Polemik, Vereinfachung, Propaganda oder gar Demagogie gemeint. Zur Durchsetzung der als richtig angesehenen Meinung ist einiges erlaubt. Schon in den ersten Debattierklubs in Griechenland oder im französischen Parlament nach der Revolution fanden wahre Redeschlachten statt, wo nicht immer und unbedingt der Zwang des besseren Arguments den Sieg davontrug.

Aber dort ging es auch nur um die Entscheidungsfindung unter ausgewählten Privilegierten. In einer direkten Demokratie wie die der Schweiz geht es um die Meinungsbildung der Staats- und Stimmbürger.

Was ist verlorengegangen in der Debattenkultur der Schweiz?

Dabei ist zu konstatieren, dass das sogar bei hochemotionalen Themen wie der Initiative für die Abschaffung der Schweizer Armee entschieden besser gelang als bei der aktuellen Debatte über das verschärfte Corona-Gesetz. Die Abstimmung fand am 26. November 1989 statt, vor fast genau 32 Jahren. Also eine gesellschaftliche Generation zurück.

Wenn das schöne Bild von Friedrich Schiller stimmen würde, stünde ja die nächste Generation immer auf den Schultern der vorangehenden, sich erhebend zu mehr Aufklärung, Fortschritt, Erkenntnis.

Das ist hier offensichtlich nicht der Fall. Zur Beschreibung ist ein ganzer Begriffszoo entwickelt worden. Gesinnungsblase, Filterblase, Fake News, alternative Wahrheiten, Verschwörungstheoretiker, Hetzer, Rechtspopulisten. Das Vokabular für die andere Seite des politischen Spektrums existiert schon länger. Linke Spinner, revolutionäre Umstürzler, Systemveränderer, Enteigner, Befürworter der Abschaffung des Privateigentums.

Einzig weggefallen ist seit 1989 alles, was man vielleicht mit «Moskau einfach» fassen kann. Also die Schablone, dass jeder Kritiker an bestehenden Verhältnissen ein mehr oder minder verkappter Anhänger des sozialistischen Lagers sei.

Wie ist aber zu erklären, dass wohl Konsens herrschen muss, dass die Debattenkultur, die Diskursfähigkeit ganz allgemein sehr massiv nachgelassen hat? Abstimmungsdebatten waren noch nie ein Streichelzoo. Aber es ist unbestreitbar, dass das Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn durch Diskurs zu Spurenelementen geschrumpft ist. Die Akzeptanz, dass einer eine andere – dadurch natürlich falsche Meinung  – als man selbst haben darf, beherrscht nicht mehr die Debatte.

So wird’s wieder grau und trist und schmal.

Der Zwang des besseren Arguments, also die Verwendung von Zweckrationalität, Logik, Analyse, qualifizierter Durchdringung eines Themas, das alles hat an Bedeutung verloren. Schlafschafe gegen Schwurbler, an solchen polemische Zuspitzungen ist nichts auszusetzen. Wenn sie unterfüttert würden mit Argumentationsketten, an denen man sich intellektuell abarbeiten könnte. Im Streben danach, dass man schlauer und einsichtiger werden will.

Angstvoller Rückfall in ängstliche Zeiten

Es handelt sich um einen Einbruch tiefer Irrationalität in Diskurse, die deswegen kaum mehr geführt werden können. Irrationalität entsteht durch Emotionalität, in erster Linie durch Angst.

Offensichtlich hat diese anhaltende Pandemie, die genauso vorübergehen wird wie alle vorher, unsere moderne Gesellschaft auf dem falschen Fuss erwischt. Obwohl wir Ursachen und Möglichkeiten zur Bekämpfung unvergleichlich viel besser kennen, verhalten sich grosse Teile der Gesellschaft wie im finsteren Mittelalter mit seinen Seuchenzügen.

Es wird nach Schuld und Sühne gesucht, nach Schuldigen und Sündern.

Der Andersdenkende ist nicht länger Bereicherung, sondern Bedrohung. Er muss nicht mehr überzeugt, sondern überwunden werden.

Seine Meinung ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Es ist zudem nicht einfach eine Meinung, sondern eine Haltung, eine Gesinnung.

Während man falsche Meinungen vielleicht noch argumentativ überwinden kann, müssen falsche Haltungen und Gesinnungen bekämpft, ausgemerzt werden. Sie stören nicht nur, sie sind eine tödliche Bedrohung. Deshalb ist jedes Gegenmittel erlaubt. Im Ernstfall die physische Vernichtung des Meinungsträgers.

Der Fortschritt ist leider nicht unumkehrbar.

Jean Gabin in «La bête humaine» nach Zola.

Ein Rückfall in Barbarei ist jederzeit möglich. Der Firnis des respektvollen Diskurses als einzig anerkannte Methode zur Entscheidungsfindung ist sehr, sehr dünn. Er ist abgekratzt. Darunter zum Vorschein kommt das lauernde, irrationale Tier im Menschen. Das nur gebändigt, nicht ausgelöscht wurde.

«Radio im Herz»

UKW abschalten, ja, nein? Noch wichtiger ist: Schawinski ja nicht abschalten.

Es ist mal wieder einer gegen alle. Roger Schawinski wehrt sich als einziger Betreiber eines Privatradios dagegen, dass beginnend im nächsten Jahr die Radio-Übertragung per UKW beendet wird.

Nicht nur vom Gebührensender SRG, sondern auch alle Privatradiobetreiber haben sich einverstanden erklärt. Alle? Ausser einem. Der bekommt nun die übliche Portion Häme ab. Im fortgeschrittenen Alter wolle er wohl nochmal zu seinen Anfängen zurück als der Radiopirat, der die Sendelandschaft in der Schweiz umgepflügt hat. Nostalgiker, aus der Zeit gefallen.

Das ist Häme, weil die Gegenargumente gegen seine Position sehr dünn gesät sind. Sandro Benini vom «Tages-Anzeiger» hatte sich die Mühe gemacht, in einem Artikel die Problematik und die widersprechenden Positionen aufzuzeigen. Zudem ist Benini ein bissiger, schneller und argumentativ keine Gefangenen machender Diskussionspartner, wie ich aus eigener Erfahrung weiss.

Er ist mit Roger Schawinski per du, wie ich übrigens auch. Das als Packungsbeilage. Es geht hier aber gar nicht in erster Linie darum. Es geht darum, dass Roger Schwaniski für seinen «Doppelpunkt» letzten Sonntag Benini eingeladen hat. Und zwar nicht, um ihn zu befragen und zu rösten, sondern um sich befragen und kritisieren zu lassen.

Die reine Hörfreude

Daraus entwickelten zwei Dinge. Zum ersten der wohl vergnüglichste Schlagabtausch zweier geübter Rhetoriker der letzten Monate, wenn nicht Jahre. Natürlich hatte Schawinski gewisse Vorteile, was profunde Kenntnisse von Technik und Geschäft betrifft.

Dass Benini Betriebskosten und Verbreitungskosten verwechselte, wurde ihm gnadenlos und mehrfach aufs Brot geschmiert.

Er wehrte sich damit, wieso ihn Schawi dann überhaupt eingeladen hatte, und hackte seinerseits immer wieder auf dem Argument herum, dass doch nicht alle anderen Trottel sein könnten, die mit der Abschaltung von UKW einverstanden seien, während nur Schawinski das Licht der Wahrheit sehe.

Es geht hier auch nicht um eine Darstellung sowie Würdigung der Argumente, die ausgetauscht wurden. Die kann (und sollte und müsste) jeder nachhören, der sich für die Umrüstungskosten, die Vor- und Nachteile von UKW, DAB/DAB+ und Internet interessiert.

Und da 58 Prozent aller Autos in der Schweiz kein DAB haben, zum Beispiel, werden zu diesem Thema sicherlich noch grosse Schlachten geschlagen werden. Schawinski macht den Anfang und hat angekündigt, dass er ohne weiteres zum Bundesverwaltungsgericht nach St. Gallen gehen wird, sollte dieser seiner Meinung nach unsinnige Entscheid nicht korrigiert werden.

Benini hielt tapfer mit seinem Argumentarium dagegen. Das wäre nun selbst für die Medien-Show ZACKBUM.ch höchstens eine Meldung wert. Und Meldungen machen wir nicht. Was es aber erwähnungswert macht: Wo, wo sonst gibt es einen solchen Schlagabtausch? Wo, wo sonst lädt sich der Chef einer Plattform seinen schärfsten Kritiker in eine Live-Sendung ein und lässt sich von ihm befragen und beharken?

Wo sonst können verschiedene Ansichten so spritzig, auch gnadenlos, aber humorvoll aufeinandertreffen? Wo sonst können Zuschauer live mitreden, und zwar ausführlich? Nirgends sonst. In den vielen, vielen Sendegefässen des Gebührenmonstrums SRG nicht. In den inzwischen miteinander verklumpten Privat-Radio- und TV-Stationen auch nicht.

Eine Oase in der Wüste

Seit Markus Gilli krankheitshalber «Talk täglich» und «Sonntalk» abgeben musste, stehen dort nicht nur Plastikwände zwischen den Diskussionsteilnehmern. Sondern das meiste, was dort geschwatzt wird, ist auch Plastik. Die «Arena» ist so zu Tode durchorganisiert worden, dass sie meilenweit von der einfachen Grundidee entfernt vor sich hinröchelt: ein paar Leute stehen um einen runden Tisch und geben sich Saures. Gelegentlich dürfen noch weitere Leute aus einem äusseren Zirkel was reinmopsen. Das war auch nicht immer eine Sternstunde der Rhetorik. Aber doch lebhaft, unterhaltsam.

Also kann man nur sagen: Ob weiterhin auf UKW, DAB/DAB+ und Internet übertragen wird oder nicht, dass ist sicherlich eine Debatte wert. Wenn Schawinski einmal abtritt, und er ist 75, dann ist guter Rat teuer. Denn er hat wirklich das «Radio im Herz», wie er sagt. Im Gegensatz zu den Managern, die die anderen Radiostationen leiten und noch nie eine eigene Sendung gemacht haben.

Die werden’s dann wohl genauso in den Sand setzen wie ihre Kollegen im Gebührensender SRG. Denn letztlich kommt es vor allem bei Radio nicht auf die Qualität des Dudelfunks an. Sondern auf den Wortinhalt. Und auf die Leidenschaft der Macher. Wie überall sonst auch.

Packungsbeilage: René Zeyer ist schon mehrfach in diversen Sendungen von Roger Schawinski aufgetreten.