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Blattkritik: Das «Spiegel»-Bild heute

Hat sich das Nachrichtenmagazin von Relotius erholt?

Das Objekt der Blattkritik ist die «Spiegel»-Ausgabe vom 18. Juli 2020. Die Titelstory knüpft an bessere Zeiten an: «Der Wirecard Thriller» nimmt sich des wohl grössten deutschen Wirtschaftsskandals an.

Der ehemalige Börsenliebling und als deutsches IT-Wunderkind gehandelte Konzern erwies sich als Betrugsmaschine, es fehlen rund 2 Milliarden Euro in der Bilanz. Seine Nummer zwei ist abgetaucht, und den Spuren dieses Jan Marsalek geht ein Team von 18 Redaktoren auf etwas mehr als neun Seiten nach. Launig illustriert und knackig betitelt mit «Auf der Jagd nach Dr. No».

Tatsächlich fördert der «Spiegel» hier Neues und Erstaunliches zu Tage. Es geht um Libyen, Russland, Spionagesoftware und wirklich knackige Anekdoten wie aus einem Bond-Film. Sauber chronologisch aufgearbeitet, hier spielt das Blatt seine Manpower und seine Fähigkeit, ein Recherchepuzzle süffig aufzubereiten, voll aus.

Rechthaber statt Recherche

Weniger glorios ist allerdings noch vor der Titelstory das erste Meinungsstück. Seit einiger Zeit leistet sich der «Spiegel» einen «Leitartikel». Hier erhebt der deutsche Oberlehrer sein hässliches Haupt: «Es reicht jetzt», kanzelt er Ungarns Premier und seine «illiberalen Freunde» ab. «Höchste Zeit», «Wesenskern würde beschädigt», hier wird mit dem Zeigefinger gefuchtelt, als würde irgend jemand auf die Ratschläge eines Journalisten hören.

Dem Zeitgeist geschuldet ist auch, dass jedes der klassischen Ressorts, zuerst «Deutschland», mit inzwischen fünf Seiten Kurzfutter eingeleitet wird. Ebenfalls den Mantel in den Wind hängt der «Spiegel» mit einem länglichen Stück über die Politik als Männerdomaine. Dann kommt etwas, was es seit Jahren nicht mehr gegeben hat, ein neues Ressort: Reporter.

Das beinhaltet, Überraschung, Reportagen. Offensichtlich die Wiedergutmachung für den Schaden, den der Fake-Reporter Claas Relotius anrichtete. Dessen Reportagen entsprachen zwar genau den Wünschen und der Gesinnung der Redaktion, hatten aber den kleinen Nachteil, dass sie über weite Strecken schlicht erfunden waren.

Das klassische «Spiegel»-Gespräch»

Im grossen Wirtschaftsstück «Masslose Macht», dem Aufmacher einer Serie über die zunehmende Dominanz des Staates in der Wirtschaft, merkt man deutlich, wie zwischen Kritik an staatlichen Monopolbetrieben und an «übertriebenen» Privatisierungen geeiert wird. Besonders hier zeigt sich, dass der «Spiegel» nun beileibe nicht in erster Linie ein Nachrichtenmagazin ist. Sondern ein Meinungsblatt. Es will nicht spiegeln, allenfalls einordnen und analysieren, es will nicht nur erklären, sondern richten.

Ein schönes Stück alter «Spiegel»-Kultur ist das Interview mit dem ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton. Der hatte schon mit einem Enthüllungsbuch mit Trump abgerechnet. Im Gespräch erweist sich die alte Kriegsgurgel als schlagfertiger und gebildeter Mensch. Wunderbar seine Sottise, als er gefragt wird, ob dem Präsidenten eine Rede Merkels über Multilateralismus auf die Nerven gegangen sei: «Trump weiss wahrscheinlich gar nicht, was Multilateralismus ist.»

Politisch korrekt ist dann aber das Interview mit den beiden Journalistinnen, die den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein wegen seinen sexuellen Übergriffen zu Fall brachten. Und nach 130 Seiten, auch das ist dem Zeitgeist geschuldet, ist dann Schluss.

€ 5.50 kostet das, in der Schweiz unverschämte Fr. 8.10. Früher war Montag obligatorischer «Spiegel»-Tag für sehr viele Deutsche, auch für mich. Seit 1995 ist die Auflage von über einer Million auf 700’000 zurückgegangen, und Erscheinungstag ist Freitag.

Im deutschen Sprachraum unerreicht

Von Fake Journalismus scheint sich das Magazin gut erholt zu haben, und wenn es wie bei dieser Titelgeschichte seinen journalistischen Muskel anspannt, ist es zumindest im deutschen Sprachraum unerreicht. Auch dem Zeitgeist geschuldet ist die immer grosszügigere Bebilderung mit auch ganzseitigen Fotos. Das hatte das Blatt früher nicht nötig, ein Gewinn ist’s nicht.

Überhaupt nicht erholt hat sich der «Spiegel» aber von seiner krachenden Fehleinschätzung, dass Donald Trump keine Chance habe, US-Präsident zu werden. Seither verfolgt ihn das Blatt hasserfüllt, beschimpft ihn als «Brandstifter» ruft «Das Ende der Welt» aus und tut so, als wäre es seine Aufgabe, den Präsidenten wegzuschreiben. Wie meist, wenn Journalismus Gesinnung zeigen will, ein Zeichen setzen, warnen, aufrufen, wird’s schal und unerträglich. Würde der «Spiegel» wieder vermehrt versuchen, dem Motto seines Gründers zu folgen, «sagen was ist» statt «sagen, wie’s sein sollte», dann wäre er wieder geniessbar.

Aber bei all seinen Schwächen, bei allen Zerrbildern, die er aus der Realität widerspiegelt: Natürlich bleibt er unverzichtbar für die politische Debatte im deutschen Sprachraum. Bis heute kann ihm kein anderes Blatt das Wasser reichen. Was ein Lob und auch ein Armutszeugnis ist.