Die Schande von der Werdstrasse

Wird die Welt immer unübersichtlicher und überkomplexer, steigt das Bedürfnis nach Nabelschau.

Erinnert sich noch jemand, was mal die Aufgabe von Journalismus, von Newsmedien war? Nein? Ich helfe gerne: von nah und fern berichten, was als berichtenswert ausgewählt wurde. Je ferner, desto grösser die Rücksichtnahme auf den Leser, der darauf vertraut, dass der Journalist vor Ort ihm ein realitätsnahes Bild der Verhältnisse gibt, da er selbst noch nie dort gewesen ist.

Je näher, desto genauer. Wobei Bezahlmedien, um sich von den vielfältigen Gratis-Angeboten auf allen Kanälen zu unterscheiden, klaren Mehrwert zu liefern haben. Nutzwert, indem sie zusätzlich noch recherchieren, kontrollieren, einordnen, gewichten, analysieren. Und durchaus auch kommentieren, kritisieren, fordern. Dazu noch auf Aspekte und Blickwinkel aufmerksam machen, die nicht dem Weltverständnis der Leser entsprechen, aber den Horizont erweitern.

Am wichtigsten aber: den Leser als mündigen Menschen behandeln, sein Vertrauen in die nach anerkannten Regeln abgefassten Artikel nicht erschüttern. Die Meldung, die Reportage in den Vordergrund stellen, nicht die Befindlichkeit des Meldenden, des Reportierenden. Und schon gar nicht dessen Gesinnungsfilter.

Leserschwund durch Qualitätsschwund

Fast alle Medien entfernen sich mit grossen Schritten von dieser Berufsaufassung. Und wundern sich, wieso sie weiterhin dramatisch an Lesern verlieren, obwohl das Informationsbedürfnis – alleine durch die Pandemie – so gross ist wie selten. Völlig in Geiselhaft ihrer Leser befinden sich Organe, die sie als einzige Einnahmequelle haben. Normalerweise gilt hier die Regel: ein Artikel, der aus der Gesinnungsblase herausragt, mindestens ein Abonnent weniger.

Nachdem der Tageszeitungsleser (oder der Leser der digitalen Version) nur noch die Wahl zwischen Skylla und Charybdis oder der NZZ hat, an immer mehr Orten nur noch Skylla oder NZZ, Charybdis oder NZZ die Wahl ist, da sich Tamedia und CH Media die Schweiz hübsch so aufgeteilt haben, dass es möglichst wenig Reibeflächen gibt, wäre die Pluralität in diesem Duopol besonders wichtig.

Wir erwähnen noch der Vollständigkeit halber die «Blick»- Familie, die aber als Stimme des Volkes und Meinungstaktgeber zunehmend schwächelt.

Nun mussten wir uns spätestens seit dem Fall Trump daran gewöhnen, dass die Meinung, die Weltsicht des Berichtenden für ihn und für sein Medium viel wichtiger geworden ist als eine möglichst genaue Beschreibung der Wirklichkeit.

Deren objektive Darstellung gibt es natürlich nicht, aber ein Totalflop aller grossen Medien, was die Wahlchancen von Donald Trump betraf, eine Berichterstattung bis tief in die Wahlnacht hinein, die der ersten Präsidentin gratulierte, hätte eigentlich Anlass zu Selbstreflexion und -kritik sein müssen.

Fähigkeit zur Selbstkritik als Beginn einer Lernkurve?

Aber die wurde nur oberflächlich, scheinheilig und mit uneingelösten Versprechungen, als hätten alle von Trumps Regierungsstil gelernt, abgeliefert. Und dann weiter im gleichen «so wie ich das sehe, ist das auch»-Journalismus.

Durch die aktuelle Pandemie wandelten sich die meisten Medien in der Schweiz zum unkritischen Sprachrohr von staatlichen Massnahmen. Ihrer Funktion als Kontrolleur und Kritiker kamen sie nur nach, indem sie zu wenig drakonische Massnahmen kritisierten, gegen jede Form von Kritik an der Regierungslinie und der Weisheit der Entscheidungen polemisierten.

Da fehlte noch ein letzter Schritt, um weiter Vertrauen und Ansehen zu verspielen: die Nabelschau.Es war schon immer eine Berufskrankheit, dass sich die meisten Journalisten in erster Linie für sich selbst interessieren. Dass es keine andere Zunft gibt, die so gerne Kritik austeilt, Besserwisserei zur Schau stellt, dabei empfindlicher als eine Mimose auf jede sanfte Berührung mit einer Kritik reagiert.

So sehen sich Journalisten am liebsten.

Aber die aktuelle Betrachtung des eigenen Bauchnabels schlägt alles. Unter welchen Bedingungen müssen News in den Redaktionen hergestellt werden? Welche Hindernisse, Hürden, Erschwernisse, Probleme gibt es dabei? Mangelnde Ressourcen, zunehmender Zeitdruck durchs Internet und die gnadenlose Beurteilung nach Klickrate? Keine Möglichkeiten mehr für vertiefte Recherchen, ganz zu schweigen von Reportagen? Zunehmender Tunnelblick auf die Realität?

Es gäbe viele Kritikpunkte der modernen News-Herstellung

Das alles wären sicherlich Themen für interne Diskussionen. Aber stattdessen wenden sich 78, inzwischen über 100 Frauen mit einem Protestschreiben an die Öffentlichkeit, in dem sie ausschliesslich die Geschlechter-, Neudeutsch Genderfrage abhandeln. Wobei Frauen immer die unschuldigen Opfer sind, Männer prinzipiell die schuldigen Täter.

Unterfüttert durch 61 Beispiele, durch deren Anonymisierung man weder weiss, ob sie zutreffen, noch wann sie sich abgespielt haben sollen und wer Täter und wer Opfer war. Eigentlich lernt man im Anfängerkurs für angehende Journalisten, dass man eine solche Story niemals machen darf. Verallgemeinerungen, basiert auf ausschliesslich anonymen Anschuldigungen? Das würde jeder männliche (und auch weibliche) Kursleiter in den Papierkorb werfen.

Schlimmer noch als all das: das interessiert den Leser, der schliesslich gutes Geld für immer schlechteren Inhalt zahlt, nicht im geringsten. Ausserhalb einer klitzekleinen Gesinnungsblase. Das interessiert höchstens Journalisten, unglaublich, dass «10 vor 10» diesen Mopser zum Schwerpunktthema einer ganzen Sendung macht.

Nabelschau, dabei ein Flop nach dem anderen

Tamedia beschäftigt sich nun mit den Bauchnäbeln einiger weiblicher Mitarbeiter. Gleichzeitig geht die journalistische Qualität noch mehr vor die Hunde. Fast alle Fraktionen im Zürcher Kantonsrat verständigen sich auf eine gemeinsame Erklärung, in der sie dem «Tages-Anzeiger» vorwerfen, immer mehr Platz zur Verteidigung der eigenen Thesen aufzuwenden, aber die Erkenntnisse der Unispital-Untersuchung nur rudimentär abzuhandeln, weil sie seinen Thesen nicht entsprechen.

Bundesrat Mauer wird durch eine Tagi-Fake-News fuchsteufelswild. In der aktuelle Ausgabe prangt fast als Seitenfüller auf Seite eins das Foto der ersten indigenen Ministerin der USA. Das ist sicherlich eine bedeutende News – für die USA. Klein wird der nächste Flop angekündigt; wie war das genau mit Bundesrat Berset und Lonza? Dem Gesundheitsminister sei eine Produktionslinie für die Herstellung eines Corona-Impfstoffs angeboten worden, die er schmählich ignoriert habe. Das war die News, die Anklage von gestern. Im Nationalrat fing man schon an zu hyperventilieren und forderte eine Parlamentarische Untersuchungskommission.

Politiker warfen mit ihren beiden Lieblingsausdrücken um sich: «Skandal» und «Rücktritt». Nur: Im aktuellen Artikel wird ein Böxlein eingerückt mit dem feinsinnigen Titel «Korrektur».

Der Text ist so windelweich-schlängelnd, dass er einen vollständigen Abdruck verdient:

«Am 11. März erschien in dieser Zeitung ein Artikel, der auf der Aussage basierte, dass dem Bund eine eigene Produktionsanlage für den Moderna-Impfstoff bei Lonza in Visp angeboten worden war. Neue Recherchen zeigen jedoch, dass es dabei um das Angebot einer staatlichen Mitfinanzierung ging. (red)»

Dürfen wir übersetzen? Wir haben eine Ente in Umlauf gebracht, mal wieder einer anonymen Quelle vertraut. War dann aber nix. Entschuldigen? Also bitte, wenn wir den Ruf, die Reputation oder die Lebensleistung von Menschen zerstören, entschuldigen wir uns doch auch nicht dafür, wenn sich die Vorwürfe als voreilig, falsch, aus der Luft gegriffen oder aus gestohlenen Unterlagen abgeschrieben erweisen. Wieso dann hier? Wenn neue Recherchen die alten Recherchen diametral widerlegen, wo soll das Problem liegen? Ausser, dass hoffentlich keine Tagi-Redaktorinnen beteiligt sind.

11 Kommentare
  1. Gerold Ott
    Gerold Ott sagte:

    Man führe sich diese website von „Impressum“ zu Gemüte. Bei dieser Anlaufstelle finden sie Spezialistinnen für die Entgegennahme von „Grenzverletzungen am redaktionellen Arbeitsplatz“. Bei der Tamedia haben sich bisher immer noch keine Frauen gemeldet wegen Belästigungsvorwürfen. Fatima hilft bestimmt auch Männern, die unter diesen üblen Verhältnisse an der Werdstrasse leiden.

    https://www.impressum.ch/content/details/fatimata-niang-und-delia-steiner-neue-mitarbeiterinnen-bei-impressum/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail

    Antworten
    • Benno Derungs
      Benno Derungs sagte:

      Bei der «Impressum»-Gleichstellungs­verantwortlichen , Fatimata Niang, können die verbal geschändeten Journalistinnen Hoffnung schöpfen (siehe Kommentar unten von Rolf Karrer).

      Für Männer scheint es dort keine ernstzunehmende Anlaufstelle zu geben. Pech gehabt.

      Antworten
  2. Tim Meier
    Tim Meier sagte:

    Interessant zu beobachten, wie die von Trump geprägten Begriffe «Fake News» und «Alternative Fakten» in den Mainstream-Medien Realität wurden.

    Antworten
  3. Martin Schwizer
    Martin Schwizer sagte:

    Die Werdstrasse überzieht das Land mit dieser unseligen Woke-Kultur, wo sich die Tadellosen an Informanten versündigen, die selbst ihre 15 Minuten Ruhm wollen und wenn auch nur im stillen Kämmerlein.

    Antworten
  4. Martin Schwizer
    Martin Schwizer sagte:

    Hier mein Beitrag zur Genderdebatte: ***********************************************************************************
    So, nun habe ich meinen Vorrat aufgebraucht, ich lasse mir doch von ein paar Identitätsbetroffenheitsquotenfmoralisierern nicht die Deutsche Sprache verhunzen (das überlasse ich mir, wie sie lesen), ich bleibe beim generischen Maskulin, da kann der Duden zur Düdin bis zur Transgendernonbinärenqueerverbogenenen werden, ich mache diese Salti nicht mit. Nein, ich weigere mich. Den ich bin wahrhaft inklusiv, ich unterscheide nicht nach biologischen Merkmalen. Debatte beendet.

    Antworten
  5. .Victor Brunner
    .Victor Brunner sagte:

    Verleger Pietro Supino, 2019:
    «Aber ich bleibe davon überzeugt, dass Neugierde der Ausgangspunkt unserer Arbeit sein muss. Fehlerfreiheit, Wahrheit im Sinne der Vollständigkeit, Transparenz insbesondere über die eigenen Interessen sowie Fairness gegenüber von der Berichterstattung betroffenen Personen und Institutionen sind die grundlegenden Qualitätsmerkmale des professionellen journalistischen Handwerks».

    Hat Supino da etwas geraucht oder die Redaktion nicht zugehört? Supino hat über vergangene Zeiten sinniert wo Tages-Anzeiger und Qualitätsjournalismus eine Selbstverständlichkeit waren. Das war noch vor Rutishauser, Stäuble, Amstutz, Boselli, Schaffner und anderen. Noch vor Maisano und Lonza. Heute ist die oberste Devise: Wir beschäftigen uns vor allem mit uns, wir kontrollieren das journalistische Mittelfeld vom Ende her, jeder Schwachsinn wird publiziert, Berichtigungen nur knapp und versteckt. Die LeserInnen dürfen sich blamieren wenn sie aufgrund unserer «Recherche» Unsinn erzählen.

    Heute, Zürich, Seite 23:
    «Seelentröster unter freiem Himmel», Thomas Zemp, zu zweit, dick eingepackt begibt sich mit Camping Kochgeschirr zur Kirche St. Peter, schöner Platz mit Baum und Bank. Holt in Kaisers Reblaube ein Menu, wärmt es unter freiem Himmel auf und geniesst es mit seiner Begleitung! Wahrscheinlich Nachwehen und Freihheitsdrang weil er während der Pandemie zuviel Dschungelcamp geschaut hat.
    Artikel mit genauen Angeben zur Reblaube, Ort, Telefon, Homepage, Kosten, Liefermöglichkeiten.
    Ein Schelm wer da Böses vermutet!

    «…die plötzliche Herzenswärme», Isabel Hemmel und Paulina Szczesniak, Einkaufen. Unterhalten sich über Kommunikation beim warten an der Kasse. Da sind dann Sozialfasten(?), Pouletschenkel, Pizza, Hunde und anderes Thema. Letztes Mal hatten sie ein strategisch/operationelles Thema: Nutzen und Laster von Einkaufswagen! Das Beste am Artikel: Kurz, aber mit Bildli wo sich Hemmel und Szczesniak wie zwei Jungverliebte anschauen. Pubertät auf allen Ebenen.

    Neben korrekter Berichterstattung wird bei der TA Redaktion auch immer mehr gute Unterhaltung, Humor und Witz zur Qual.

    Antworten
  6. Sam Thaier
    Sam Thaier sagte:

    Am 11. März 2021 hatte die TA-Wirtschaftsjournalistin Isabel Strassheim diesen damaligen Primeur unter dem Titel: Der Bund wollte keine eigene Impfstoff­produktion haben», geschrieben.
    Weiter stand da: «Die Knappheit müsste nicht sein: Der Bund hätte bei Lonza eine eigene Produktionslinie für den Covid-Impfstoff aufbauen können. Die Gründe für die Ablehnung sind überraschend.»

    Überraschende drei Sachen: 1. Der knappe Kommentar (Korrekturmeldung) bezüglich dieser offensichtlichen Ente im TA. 2. Wie die verantwortliche Jungjournalistin Isabel Strassheim auf Tauchstation ging, für ihre ungenügende Recherche. 3. Wie der Oberchef Ruthishauser mit väterlicher Umsicht diese gerupfte Frau stillschweigend in Schutz nahm.

    So gentlemen-like können nur Männer vom umsichtigen «Boys Club» sein.

    Antworten
    • Rolf Karrer
      Rolf Karrer sagte:

      Apropos «Boys Club». Kannte diesen Begriff bis Anhin bloss von den Bankstern vom Paradeplatz. Im BLICK konnten die Gleichstellungs­verantwortliche beim Journalistenverband Impressum, ­Fatimata Niang und Nadja Rohner, Co-Präsidentin des Vereins Medienfrauen Schweiz, ihr Herz ausschütten. Über die Wetterlage bei Tamedia meinten sie folgendes:

      «Hier zeigt sich keineswegs ein ­reines Tamedia-Problem. Bei uns beschweren sich Frauen aus allen grossen Verlagen über Sexismus.» Boys Clubs und Misogynie kämen in vielen Redaktionen vor.»

      Was halten diese beiden Frauen vom «Girls-Club» von den Begriffen Misandrie und Dysthymiker?

      Antworten
    • .Victor Brunner
      .Victor Brunner sagte:

      Heute wieder ein Artikel zu Lonza: «Im System Lonza knirscht es», von Philippe Reichen und Christoph Lenz, ohne Isabel Strassheim. Im Text: «Dem Vernehmen nach…», «…sagen Leute aus dem Lonza-Umfeld.», «…schildert ein Mitarbeiter.», «Gemäss internen Quellen…». Immerhin haben die Beiden vermerkt wer sie zum Artikel inspiriert hat, den «Walliser Boten».

      Antworten
      • Martin Schwizer
        Martin Schwizer sagte:

        Das ist ja auch die Hauptbeschäftigung der Redaktoren: Andere Zeitungen lesen und dann Gelesenes neu worden und mit ihrer Ideologie bespinnen (to spin, zur Klarstellung, wobei auch das Deutsche Verb vielfach passt).

        Antworten

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert