Präventive Panik

Medienkonsumenten sind entweder Hellseher oder nicht ganz dicht. Kündigt sich eine Veränderung an, reagieren sie vorsichtshalber mal mit der Annahme des Schlimmsten. War immer so und ist auch aktuell so.

Von Stefan Millius*

Kindheitserinnerung: Wenn das Leibblatt meiner Eltern in den 80er-Jahren, das St.Galler Tagblatt, alle paar Jahre leicht am Layout schraubte, herrschte Ausnahmezustand. Der Vater genervt, die Mutter erbost. Warum denn nur, warum, es war doch alles gut, und jetzt findet man in dieser Zeitung einfach gar nichts mehr. Zwei Tage später erinnerten sie sich nicht mehr daran, wie sie früher aussah.

Layoutfragen sind heute kein Thema mehr. Dafür herrscht viel Angst vor anderen Veränderungen. Ein anderer Besitzer, eine neue Chefredaktion: Da kommen Beschwerden, Unruhe und Vorwürfe auf, bevor der Wechsel überhaupt vollzogen wird. Der Tenor: Sind Leute im Spiel, die politisch auf der anderen Seite stehen, muss es einfach schlecht werden. Es ist, als würde man dem unsympathischen Primarschüler mit den lästigen Eltern einfach mal eine Eins verpassen, bevor er die Prüfung überhaupt auf dem Tisch hat.

Pluralistisch, aber keiner merkts

Als Blocher bei der Basler Zeitung einstieg, war allen klar: Nun kommt der «Stürmer» Nordwestschweizer Prägung. Die Leute gingen auf die Strasse, um gegen das neue rechte Medium zu demonstrieren, bevor irgendetwas passiert war. Nur aufgrund der Ankündigung.

Die Wahrheit sah anders aus. In der Redaktion gab es auch unter den neuen Besitzern kein grosses Aufräumen, zumindest kein von oben verordnetes, und ein Altlinker wie Helmut Hubacher fühlte sich als Kolumnist weiter pudelwohl. Die BAZ war vermutlich in jener Ära die pluralistischste Zeitung der Schweiz, in der sich die Pole munter Debatten lieferten, was man von den selbstdeklarierten «Forumszeitungen» bis heute nicht behaupten kann. Es sei denn, man hält ein zum Gähnen langweiliges «Pro und Kontra» zweier Nationalratshinterbänkler für den Olymp der Meinungsvielfalt.

Alles Faschos

Nun wiederholt sich die Geschichte mit dem «Nebelspalter», der neu «klar liberal» sein soll mit 70 vermutlich eher vermögenden Investoren und dem rechtsbürgerlichen Markus Somm als Chefredaktor und Verleger. Twitter implodierte in den Tagen vor dem Start der erneuerten Marke förmlich unter Prognosen, die sich durch eines auszeichneten: Sie gingen vom Schlimmsten aus, bevor auch nur ein einziger Text online war.

Eine kleine Auswahl von Twittermeldungen:

  • «Der Nebelspalter wird unter Markus Somm nur noch gegen rote Fäuste kämpfen, die braunen werden liebevoll geschüttelt.»

  • «Es scheint ein rechtspopulistisches Satireblatt zu werden, das sich getrauen wird, das auszusprechen, was andere nicht tun. Das ist meistens rechter Code für Hetze und Falschbehauptungen.»

  • «Markus Somm will weiterhin den kritischen Nebelspalter drucken lassen und dafür mit der Onlineausgabe den rechten Hetzern in den Arsch kriechen.»

  • «Jemand, der den Nebelspalter nie ansatzweise begriffen hat, darf sich da propagandistisch austoben.»

  • «Somm verschliest seinen faschistischen Nebelspalter hinter der Paywall. Gut so. Rechtsradikale Scheisse gibt’s schon genug im Netz.»

Diese Auslese entstand bis Mittwochabend, 17. März 2021, also etwa zwölf Stunden, bevor der neue Nebelspalter online ging. Sprich: Ohne einen einzigen Text gesehen zu haben, stand für die besagten Leute und viele weitere – es ist eine wirklich kleine Auslese – fest, dass die Onlinzeitung faschistisch ist, rechtsradikale Scheisse produziert, rechten Hetzern in den Arsch kriecht und überhaupt irgendwie, naja, rechts ist.

Empörung statt Neugier

Dass Markus Somm als Verleger und Chefredaktor kaum ein trotzkistisches Kampfblatt auf den Markt wirft, ist eine verlässliche Annahme. Auch, dass das 1. Mai-Komitee nicht zu den Investoren gehört. Von dort bis zum faschischisten Hoforgan ist es allerdings ein ziemlich weiter Weg. Und: Was ist eigentlich aus dem guten alten «Na, dann schauen wir mal und sind gespannt» geworden? Aus einer wohlwollenden Neugier auch gegenüber etwas Neuem, hinter dem nun nicht gerade die besten Freunde stecken?

Auffällig auch, dass die Präventivpanik und der Vorausprotest meist von links kommen. Bei der «Republik» zeichnete sich früh ab, dass dort eine Brigade arbeiten wird, die nicht nur gemeinsam schreibt, sondern auch den Stimmzettel identisch ausfüllt. Aber von rechts warnte vor dem Startschuss niemand davor, dass hier eine neue linke Medienkraft entsteht. Warum auch?

Unmöglicher Gegenbeweis

Hätten sie Geld und Zeit ohne Ende, müssten Zeitungen, die so mit Vorschussdisteln eingedeckt werden, eigentlich ein Experiment wagen und die ersten drei Monate genau das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen befürchtet. Eine Kolumne für Schweden-Greta, das Konterfei von Paul Rechsteiner als Seitenhintergrund, das Tagebuch von Cédric Wermuth als Serie und so weiter. Und das nicht im Satirebereich, sondern im heiligen Ernst.

Das dürfte Somm und Co. zu doof sein. Aber selbst wenn sie ihr Versprechen einlösen und alle Stimmen einbinden und den Dialog zwischen links und rechts ermöglichen, wird die zitierte Twittergemeinde bis zum jüngsten Tag röhren: Rechtsfaschistische Scheisse! Sie haben es getan, ohne etwas gesehen zu haben, in Zukunft können sie eine selektive Auswahl aus dem Textangebot nehmen und sich bestätigt fühlen.

Die Wahrheit ist: Es spielt in solchen Fällen gar keine Rolle, was drinsteht. Entscheidend ist nur, was draufsteht. Die «falschen» Investoren, der «falsche» Verleger: Dann muss es einfach falsch werden.

*Packungsbeilage: Der Autor ist freischaffender Mitarbeiter beim Nebelspalter.

 

 

 

5 Kommentare
  1. Martin Schwizer
    Martin Schwizer sagte:

    Frage: Muss man heutzutage noch auf Twitter sein? Wird da nicht einfach tagein, tagaus das ganze Woke-Alphabet wiedergekäut von blökenden Tugendpharisäern, also vom Morgen bis um Mitternacht? Also so quasi die geistige Umarmung der «erwachsenen» Guet-(Nacht)gschichtli bis zum Lichterlöschen oder einfach bis der Baum, also der Thread brennt? Ich bin nicht drauf. Also mal eingeloggt, bei Brotz einen Kommentar hinterlassen und wieder gegangen. Ganz ohne Schleim- oder Leuchtspur. Aber die Frage darf gerne jemand beantworten, der Profiuser ist.

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  2. Interessierter Leser
    Interessierter Leser sagte:

    Wir leben in einer Zeit, in der Frau, die auf Twitter Arschloch-Preise vergibt, einen Preis erhält für ihr Engagement gegen Hate Speech im Internet. Was wundern wir uns noch?

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  3. Jürg Streuli
    Jürg Streuli sagte:

    Die Linken sind die grössten Heuchler. Sie predigen zwar Toleranz, sind dazu jedoch unfähig. Seit Lenin ist die Welt der Linken in Schwarz und Weiss eingeteilt, was von Stalin bis Mao und Pol Pot viele Millionen von Todesopfern gekostet hat. Bei Gesprächen mit Linken weiss man die Antworten stets im Voraus. Denn selbständiges Denken ist nicht vorgesehen. Ebenso gibt es die gute zu rechtfertigende und die verdammenswerte Gewalt. Die Welt der Linken ist eine sehr verlogene.

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  4. Rosa Hashimoto
    Rosa Hashimoto sagte:

    Guter Text, Präventivpanik ist zur Beschreibung der Zustände auf Twitter sehr treffend. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass es «ein Einer» und nicht «eine Eins» heisst.

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