Portraitfotos als Zeitmaschine

Wer für Artikel oder für Politinserate einfach Portraits vom Netz herunterlädt, erzeugt manche Stilblüte.

Die Woche sind mir zwei Portraitfotos ins Auge gestochen. Einmal der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger, der von einem Pro-E-ID-Inserat entgegenlachte. Mit neckischem Grinsen und tiefbraunem Haarkranz. Eine rudimentäre Internetrecherche zeigt: Das Foto stammt von 2007. Damals wurden alle Nationalräte zu Legislaturbeginn abgelichtet. Hinter dem Inserat und dem Ja-Komitee zum neuen E-ID-Pass steht der Verein digitalswitzerland. Zu seinen Mitgliedern zählen laut Selbsteinschätzung Organisationen des privaten und öffentlichen Sektors sowie Hochschulen und der Wirtschaftsverband Economiesuisse. Die Idee zum Konstrukt hatte Marc Walder, CEO des Medienkonzerns Ringier, vor sechs Jahren. Digitalswitzerland mag ja eine Zukunftsvision punkto Digitalisierung haben, bei der Fotoauswahl ist sie eher retro. Oder einfach faul.

 

Filippo Leutenegger: Zwischen den Aufnahmen liegen 14 Jahre. Das zweite Bild stammt von der Website des Schul- und Sportdepartements der Stadt Zürich.

Nicht viel besser als digitalswitzerland agierte letzthin die Weltwoche. Es ging um den Politiker und Oberrichter Christoph Spiess. Er war vor zwei Wochen mal kurzzeitig Tiktok-Star, dank einem grossen Artikel im Tages-Anzeiger. Das Thema griff neben ZACKBUM eben auch die Weltwoche auf: «Spiesser-Attacke gegen Richter Spiess». So weit, so gut. Doch die Fotoabteilung der Weltwoche bediente sich tief in die Mottenkiste. Gut 20 Jahre alt ist das Foto von Christoph Spiess. Warum ich das vermute? Die Weltwoche hat das Spiess-Foto von der Internetseite des Stadtzürcher Gemeinderats heruntergeladen. Spiess war von 1982 bis 1998 und dann nochmals von 2010 bis 2014 in der Legislative. So jung und drahtig war der SD-Politiker definitiv in seiner ersten Amtszeit.

Christoph Spiess, wohl vor mehr als 15 Jahren aufgenommen, erschienen in der Weltwoche vom 18.2.2021.

Warum passieren solche schrägen Dinge? Eigentlich darf man ja kein Foto verwenden, wenn man nicht um Erlaubnis bittet beim Fotografen. Gerade bei staatlichen Institutionen und bei Parlamenten nimmt man stillschweigend an, dass die Rechte wohl abgegolten sind von den Auftraggebern. Doch ohne Reklamation kein Problem. Von den abgelichteten Politikern ist oft ebenfalls keine Reaktion zu erwarten. Wer fühlt sich nicht geehrt, wenn er so viel jünger aussieht? Ausser er heisst Daniel Jositsch und hat 30 Kilogramm abgenommen.

Noch ein Schmankerl zur Weltwoche. 2019 klaute mir das Wochenblatt ein Foto, das ich von Charly Schlott bei seinem letzten öffentlichen Auftritt gemacht hatte. Schlott (1934-2019), das war die Speaker-Legende des Zürcher Hallenstadions mit der charakteristisch-rauchigen Stimme. Die Weltwoche druckte das Bild, es war das letzte, bevor Schlott an den Folgen einer Operation starb, ungefragt ab. Darauf kam ich nur, weil ich die Weltwoche immer lese. Nach längerem Hin und Her (es war gefühlt ein Kommen und Gehen auf der Weltwoche-Fotoredaktion) einigten wir uns dann, dass ich ein Abo bekomme als Wiedergutmachung.  Denn die Weltwoche hatte recht dreist nicht einmal den Fotografen (also mich) angegeben, sondern nur das Kürzel zvg. Zur Verfügung gestellt hatte ich das Bild definitiv nicht.

1 Antwort
  1. Victor Brunner
    Victor Brunner sagte:

    Pfusch ist doch normal auf dem Medienplatz Zürich, Hauptsache schnell und wenn es geht noch süffisant und noch zu dumm aktuelle Porträts zu besorgen. Die Porträtierten freut es, keine Altersföteli, sondern jung, dynamisch!

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