Es gilt die Unschuldsvermutung – nicht

Neben Trump und Corona setzen die Medien zu einem skandalösen Tiefflug an.

Es gibt in der Juristerei ein paar eherne Grundsätze, von denen eigentlich schon jeder gehört hat. In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten ist der erste. Staatsanwaltschaft und Gericht entscheiden, bis zu welchem Grad ein öffentliches Interesse an einem Fall vorhanden ist. Und informieren dementsprechend – oder auch nicht. Drittens: Es gilt die Unschuldsvermutung.

Das bedeutet, dass ein Verdächtiger, ein Angeschuldigter, ein Angeklagter solange als absolut unschuldig gilt, bis er rechtskräftig verurteilt wurde. Damit soll verhindert werden, dass der Ruf, die Ehre, die Reputation eines Menschen medial vernichtet wurde, bevor er am Schluss von allen Anklagepunkte freigesprochen wird.

Zum Schutz des Angeklagten soll auch dienen, dass alle Ermittlungsakten, alle Untersuchungsergebnisse – auch die Anklageschrift – strikt vertraulich behandelt werden. Sie unterliegen sowieso einer Geheimhaltungspflicht, die kann sogar noch ausgeweitet werden, wenn schützenswerte Interessen dafürsprechen.

Bezirksgericht: weltfremd, absurd, lachhaft

So gab das Bezirksgericht in seiner ersten Medienmitteilung zur Causa Vincenz bekannt, dass in den Medien gewünscht worden sei, die Anklageschrift schon weit vor dem Gerichtstermin zu erhalten: «Dies wäre vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung, die vorbehaltlos für alle Beschuldigten gilt, nicht vertretbar.»

Damit der Weltfremdheit nicht genug: «In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft den Parteien eine Geheimhaltungspflicht auferlegt hat, die nach wie vor Bestand hat. Demgemäss müssen die Parteien und weitere betroffene Personen über Informationen aus den Untersuchungsakten Stillschweigen bewahren.» Da Hinweise auf Verstösse vorlägen, habe das Gericht Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht.

Absurder und lächerlicher geht es nicht mehr. Schon kurz nach Einreichung der Anklageschrift begannen die ersten Medien, daraus zu zitieren. Wohl noch bevor die Angeschuldigten sie zu sehen bekamen. Da Journalisten nicht an irgendwelche Geheimhaltungspflichten gebunden sind und ihre Quellen schützen dürfen, wird diese Anzeige gegen Unbekannt still und leise verröcheln.

Eine Headline bei «Inside Paradeplatz». Damit schaffte er die höchste Klickrate aller Zeiten.

Die Unschuldsvermutung gilt weiterhin vorbehaltlos? Wer sich da nicht die Lachtränen aus den Augen wischt, hat die letzten drei Jahre alle Berichterstattungen über den Fall des früheren Raiffeisenbosses ignoriert.

Statt Geschäftsverkehr Geschlechtsverkehr?

Sobald der Anfangsverdacht des Staatsanwalts auf ungetreue Geschäftsbesorgung zusammengebrochen war, verlegte er sich auf das viel leichter zu beweisende Delikt Spesenbetrug. Zufällig tauchten damals schon in den Medien Berichte über unverschämte Spesenrechnungen, über auf Firmenkreditkarte abgerechnete Besuche von Striplokalen, über ein ständig auf Kosten von Raiffeisen gemietetes Zimmer im Zürcher Hotel Hyatt, wo der Ex-Banker nicht seinem Geschäftsverkehr, sondern seinem Geschlechtsverkehr nachgegangen sei. Wobei er auch noch Geschäftskosten mit Geschlechtskosten vermischte.

Das waren alles zwar Schläge ins Gesicht der Unschuldsvermutung. Aber geradezu sanfte Knüffe im Vergleich zu dem, was über Vincenz hereinbrach, seitdem die Anklageschrift mit all ihren saftigen Details an die Medien verfüttert wurde.

Detaillierte Berichte über einzelne Spesenabrechnungen im Rotlichtbezirk, skandalöse 250‘000 Franken soll Raiffeisen dafür in Rechnung gestellt worden sein. Das sei dann zudem auch gewerbsmässiger Betrug, Urkundenfälschung, Veruntreuung und Bestechung, zieht der Staatsanwalt vom Leder.

Was kann man noch in Fetzen hauen vom Ruf?

Kann man den Ruf von Vincenz noch mehr vernichten? Aber sicher; wie es sich für ein Boulevardblatt gehört, will der «Blick» die erste «Tänzerin» aufgetrieben haben, mit der Vincenz seinen Trieben nachging. Der soll er dann mithilfe von Anwälten eine Schweigevereinbarung abgetrotzt haben, gegen Zahlung. Die übernahm er offenbar aus dem eigenen Sack, aber auch die Anwaltskosten landeten bei Raiffeisen.

Exklusive Story im «Blick» – wie brachte er die «Geliebte» zum Reden?

War das alles so? Wir wissen es nicht, denn es steht nur so in der Anklageschrift. Wieso kennen wir die Anklageschrift? Weil sie sofort an Medien weitergereicht wurde. Geschah das auf legalen Wegen? Natürlich nicht. Wird das sanktioniert werden? Natürlich nicht.

Geht’s noch absurder? Sicher. Während allenthalben saftige Brocken aus der Anklageschrift an die Öffentlichkeit gezerrt werden, dürfen sich die eigentlich Betroffenen nicht äussern, nicht wehren: Der Staatsanwalt hat ihnen eine Geheimhaltungspflicht auferlegt, gleich mal bis Ende Jahr. Die wird auch vom Bezirksgericht, das nun die Verfahrenshoheit hat, aufrechterhalten.

Das bringt die seriöse NZZ zu einer merkwürdigen Forderung:

Das veröffentlichte Interesse soll alles möglich machen?

Geht’s noch absurder? Natürlich. Denn diese Verfügung ist nichtig, soweit es die Parteien, also die Angeschuldigten, betrifft. So steht es in der Strafprozessordnung, so bestätigt es der Verfasser des Basler Kommentars dazu, die Autorität auf diesem Gebiet, Prof. Urs Saxer: Im entsprechenden Artikel  sind «die Parteien, die Angeschuldigten hier nicht gemeint».

Gilt noch in irgend einer Form die Unschuldsvermutung?

Gilt noch in irgend einer schattenhaften, theoretischen Form die Unschuldsvermutung, gar «vorbehaltlos»? Das wäre der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn es nicht so tragisch für die Betroffenen wäre. Sie halten sich an einen Maulkorb, der gar keine Rechtsgrundlage hat. Sie müssen zusehen, wie sie nicht nur vorverurteilt, sondern diskeditiert werden, ihr vorher tadelloser Ruf durch alle denkbaren Schlammbäder gezerrt wird.

Nebenbei: Wenn, es gilt die Unschuldsvermutung, wenn Vincenz diese Spesen verursacht hat und kein geschäftlicher Zusammenhang zu erkennen war: Wie lausig waren dann eigentlich die Kontrollen bei Raiffeisen? Die Spesen wurden auch vom VR-Präsidenten der Bank visiert, wieso läuft dann gegen ihn keine Strafuntersuchung wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung?

Vorverurteilung aufgrund von Anschuldigungen aus der Anklageschrift

Aber hat Vincenz, gab es dieses skandalöse Verhalten? Wir wissen es nicht. Wir kennen nur Auszüge aus der Anklageschrift, die wir eigentlich nicht kennen dürften. Und wir glauben natürlich vorbehaltlos an die Unschuldsvermutung. Vorsicht, denken Sie an Rippen und Nachbarn, bevor sie laut schallend herausprusten. Für Vincenz ist das allerdings überhaupt nicht komisch.

Im angelsächsischen Raum, der eine andere Art von Fairplay kennt, wäre das schon längst zu einem mistrial erklärt worden, weil keine unbefangene Rechtsprechung mehr möglich wäre.

1 Antwort
  1. Alois Fischer
    Alois Fischer sagte:

    Wen wunderts? Es wird wohl ein rasant zunehmendes Phänomen der vereinigten Heuchler, Moralisten und angeblichen Antifaschisten sein, wenn der überragende Sieg der Gerechtigkeit ausgekostet und leergeschrieben ist.
    Die weltweit schlimmsten Leugner, Volksverächter und Frauenschänder sind gebodigt – wenn man den «anständigen» Berufspolitiker und den selbsternannten Sittenwächtern aus den «unbestechlichen» Redaktionsstuben glaubt – und die Welt leider leider immer noch nicht geheilt. Die Demokratie im Eimer, das Justizsystem ebenso marode wie das der Gesundheit und Chefradaktoren verstehen diese Welt immer noch nicht.
    Also bitte zurückbesinnen auf den heimischen Pfuhl, tüchtig zulangen und alle Empathie darauf verwenden, den schweizweit schlimmsten Verbrecher ans Licht zu helfen. Natürlich mit geltender Unschuldsvermutung, versteht sich, wir sind ja keine Unmenschen und Populisten.
    Wir sind die Revolutionsgarden einer ganz neuen, anständigen, einfühlsamen und gerechten Ordnung. Basta!

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