Kanditaten und Pipolare

Nein, der Titel gehört zu «gedruckt ist gedruckt».

Ein unverbesserlicher Trupp aus Besserwissern hat sich auf Facebook in einer Gruppe zusammengeschlossen, um sprachliche Unzulänglichkeiten aus Schweizer Medien zu sammeln. Das Ergebnis ist erschütternd.

Nein, ich werde den Link nicht veröffentlichen. Auch wenn es weder um rechtsradikale Bombenleger noch um verschwörungstheoretische Blindgänger geht: Wir möchten unter uns bleiben. Es ist eine zu kuschlige Ecke, um sie mit jedem zu teilen. Die Facebook-Gruppe, von der hier die Rede ist, ist «geschlossen», Aufnahmen erfolgen unter Empfehlung und Einladung. Man muss vorsichtig sein heutzutage. Aber wer sucht, der findet.

Entsetzen und Erstaunen

Was aber wird in diesem illustren Kreis besprochen? Recht profanes Zeugs. Nämlich Stilblüten, Fallfehler und andere Todsünden, die von Schweizer Medien ganz selbstverständlich präsentiert werden. Den Akkusativ haben wir schon längst beerdigt, der kommt nie wieder, der Genitiv ist quicklebendig, aber leider nur dort, wo er nicht zum Zug kommen sollte. Sie sind voll davon, die Zeitungszeilen. Und wir teilen die Fundstücke in unserer kleinen Gruppe und ergötzen uns in einer Art Mischung aus grenzenlosem Entsetzen und bewunderndem Erstaunen darüber, was den Leserinnen und Lesern serviert wird.

CH Media hat ja bekanntlich das Korrektorat schon länger in die Hände einiger Schnellbleiche-Germanisten aus Banja Luka übergeben. Aber auch dort, wo theoretisch noch Schweizer Qualität am Werk ist, entsteht gar Seltsames. Ich habe stets ein schlechtes Gewissen, wenn ich meine ältere Tochter (12) massregle für sehr offensichtliche Fehler in einem Diktat. Wie soll sie es denn besser wissen, wenn Leute, die vom Schreiben leben, in grandioser Nonchalance über jede Regel hinweggehen und Sätze bilden, die mindestens beim ersten Überfliegen schmerzen müssen?

Medien wollen ernst genommen werden

Da gibt es die «pipolare Störung». Die «vertrauliche Atmosphäre.» Irgendwo «sass sitzend» jemand im Gebüsch. Auch sehr hübsch: «Fahrzeug gerät in Vollbrand auf Autobahn» – und nicht etwa umgekehrt. Ein weiteres Highlight: «Zug rollt über betrunkenen 15-Jährigen – und überlebt.» Wir atmen auf, weil uns der Zug wirklich am Herzen liegt. Oder kannten Sie das Wort «Skelletieren»? Wie steht es mit den «Kanditaten»? Alles aktuelle Beispiele aus Medien, die für sich in Anspruch nehmen, ernst genommen zu werden. Wir versuchen es gerne. Es ist hart.

Wer einen Stuhl kauft, geht davon aus, dass das Ding danach felsenfest sitzt. Sprich: Die Beine sollten gleich lang sein. Mindestens. Wer eine Zeitung kauft, darf hingegen nicht sicher sein, dass die Essenz des Produkts lupenrein ist: die Sprache. Und nein, die oft bemühten Praktikanten von «20 Minuten» sind längst nicht die einzigen, die Sätze und Wendungen konstruieren, bei denen es jedem sprachbewussten Zeitgenossen den Atem verschlägt. Das Problem reicht viel weiter.

Vielleicht sollten wir einfach aufgeben

Aber vielleicht müssen wir uns an pipolare 15-Jährige gewöhnen, die unter Zügen liegen, die danach überleben und die damit zu Kanditaten für den Darwinpreis 2020 werden. Wer es akzeptiert, hat es leichter. Wir sollten die Sprache vielleicht einfach aufgeben. Und uns freuen, wenn ein Satz wirklich stimmt.

Von Stefan Millius. Er ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

Packungsbeilage: Der ZACKBUM.ch-Redaktor René Zeyer publiziert in «Die Ostschweiz».

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Themenverwandter Artikel:

«Fehlermehldung»: WoZ-Artikel vom 2.7.2020 (Das professionelle Korrektorat fällt bei vielen Medienkonzernen mehr und mehr der Sparwut zum Opfer. Besonders eifrig geht dabei die TX Group vor).

1 Antwort
  1. Hans von Atzigen
    Hans von Atzigen sagte:

    Mich haut es um vor Lachen.
    Der Zweck der Sprache ist, Information oder Wissen, in direkter Sprache oder in
    geschriebenem Wort zu vermitteln.
    Das sollte möglichst kurz und ,,effizient» geschehen das heisst mit einem
    möglichst kleinen Anteil an unnötiger „Zusatzverpackung”.
    Genauere Präzisierung:
    Eine möglichst hohe Info und Wissensvermittlungsdichte.
    Für den Alltag ist die Grenze an der Unverständlichkeit oder Überladung mit Fremd oder
    spezifischen Fachbegriffen zu ziehen.
    Mein Gott absolut nix gegen Germanistik, ausgefeilte Sprache und perfekte Rechtschreibung.
    Im Alltag braucht es das nicht zwingend, in spezifischer Literatur keine Frage, ist das eine
    hohe nicht alltägliche Kunstform, die am richtigen Ort gepflegt werden sollte.
    Beispiel: Bis vor 25 Jahren war ich Leser der alten Weltwoche.
    Einer der letzten dort gelesenen Artikel war eine ganzseitige wenig bis fast null informative Riesenseite, irgendwo in der Mitte die entscheidende Kernbotschaft, vermittelbar in wenigen gut formulierten Sätzen.
    Das war dann des Masses voll, heisst Abo-Kündigung und Tschüss.
    Das heute gängige einfache Alphabet das eine Vielfalt an Formulierungen ermöglicht, ergänzt durch die Gutenbergerfindung, bewegliche Lettern, sind die Geburtsstunde der Aufklärung,der Moderne.
    (Die konnte sich zum Beispiel in der ältesten Kultur der Welt nicht herausbilden,
    dafür war die Chinesische Zeichen-Schrift viel zu aufwändig, die zu lernen eine Lebensaufgabe
    war und ist. Die zeitgenössische Technik hat vieles, auch für die Chinesen vereinfacht.)
    Die Info und Wissensvermittlungsdichte ist das entscheidende und NICHT die schöne
    voluminöse Verpackung.
    Grins, ich höre den Aufschrei der Germanistisch gebildeten und sehe deren
    entsetzte sprachlose Gesichter.
    Wünsche noch einen schönen stressfreien Sonntag.

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